Tal Sagi ist als religiöse Siedlerin aufgewachsen, hat in Israels Armee gedient und schützt heute Palästinenser vor Siedlern – im Gespräch mit Ari Folman zeigt sie Hintergründe aktueller Siedlergewalt und den Alltag unter der Besatzung auf.
tachles: Wie sind Sie zu Breaking the Silence gekommen?
Tal Sagi: Es war ein langer Weg. Ich wuchs in der Siedlung Shaarei Tikva auf, welche im Vergleich zu anderen Siedlungen relativ gemässigt war. Aber meine Eltern scherzten, sie seien «Kahanisten», also Anhänger von Meir Kahane.
Glaubten Ihre Eltern an die Überlegenheit der jüdischen Rasse?
Ja. Vielleicht unbewusst, aber sicher. Sie glaubten an die Überlegenheit des jüdischen Volkes. Ich erinnere mich lebhaft an die Freude, die auf Rabins Ermordung folgte. Aus den Medien und in der Öffentlichkeit verstand ich, dass wir trauern sollten. Aber zu Hause herrschte nur Freude und die Meinung, dass es gut sei, dass er getötet worden war. Ich erinnere mich noch an die Gespräche in den folgenden Jahren, sogar während meines Militärdienstes, wo ich zur Offizierin für kulturelle Bildung ernannt wurde und ein Memorial für Rabin organisieren sollte. Ich war wütend – weshalb sollte ich so etwas organisieren? Ich war der Überzeugung, dass es gut war, dass er getötet worden war.
Wussten Sie, was die Oslo-Abkommen waren?
Nicht wirklich. Ich verstand ja nicht einmal, was eine Siedlung ist. Ich verstand nicht, warum um alles in der Welt so darüber gesprochen wurde, als würden die Leute nicht begreifen, dass wir uns einfach «ansiedelten», zurückkehrten. Ich wusste nicht, was die Grüne Linie war, was die besetzten Gebiete waren. Ich hatte keine Ahnung!
Wie begann dann das Umdenken?
Für das Bildungskorps der Armee organisierte ich Führungen auf den Spuren des jüdischen Erbes durch das ganze Land. Ich führte Soldaten in die Stadt Hebron und zum historischen Beit-Hadassah-Komplex. Freunde meiner Eltern waren unter den Gründern dieses Hauses. Die Soldaten stammten aus allen Abteilungen der Armee, und ich erklärte ihnen die Geschichte der jüdischen Siedlung in Hebron. Ich ging völlig im Narrativ auf, in dem ich erzogen worden war, und gab es voller Überzeugung weiter.
Und Sie glaubten an dieses Narrativ?
Von ganzem Herzen. Die Essenz dessen, was ich erklärte, wäre in etwa: Wir sind ein Verbindungsglied der Kette, die von heute bis zu unserem Vater Abraham reicht. Es gibt eine Kontinuität jüdischen Lebens hier, ungebrochen, und wir sind lediglich das nächste Glied – am Ort, wo unsere Patriarchen und Matriarchinnen beerdigt sind. Kontinuität steht über allem.
Unsere Touren führten zum Beit Hadassah, zum Grab der Patriarchen, nach Beit Romano und Tel Rumeida. Damals lebten dreissig Familien in Beit Hadassah. Sie waren freundlich zu uns und wir waren befreundet. Wir assen Toast mit ihnen, ein kleines Stück Pizza, kleine Dinge, die für einen Soldaten viel bedeuteten. Ich fühlte mich in Wärme gehüllt und erfüllte einen guten Zweck. Ich träumte sogar davon, zusammen mit den Siedlern die ganze Geschichte Hebrons zu schreiben, angereichert mit kleinen Anekdoten über die Heiligkeit dieses Ortes, wo Adam und Eva, Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea beerdigt sein sollen. Ich glaubte das wirklich, und es bewegte mich zutiefst. Ich fühlte beim Sprechen die Schechina und schauderte.
Fragte nie jemand nach den 300 000 Palästinensern, die in Hebron leben?
Nicht wirklich. Nicht, bis eines Tages eine Gruppe Nahal-Soldaten kam und «Beendet die Besetzung» an eine Wand sprühte. Ich fragte, was sie da täten, und sie sagten: «Tal, verstehst du wirklich nicht, wo wir sind? Siehst du die Unterdrückung der Hunderttausenden um uns herum in dieser kleinen Enklave nicht?» Ich konnte es nicht, hatte nie die Augen gehabt, es zu sehen. Doch damit begann es.
Können Sie diesen Prozess beschreiben?
Meine ältere Schwester verliess die Siedlung und begann ein Gender- und Islam-Studium – eine schockierende Wahl in unserem religiös-zionistischen Umfeld. Sie tat es in offener Ablehnung all dessen, was sie zu Hause über den Islam gehört hatte. Sie hatte so unglaublich viel Mut! Ich zog für eine Weile zu ihr und wurde dort von ihren Freunden, die liberale Linke waren, beeinflusst. Ich beteiligte mich an Demonstrationen für Geschlechtergleichstellung, Frauenrechte oder LGBTQ-Anliegen. Das war vor zehn Jahren, gerade vor der MeToo-Welle. Ich traf Menschen von der anderen Seite des politischen Spektrums und sah, im Gegensatz zu dem, was mir beigebracht worden war, dass sie freundlich und fürsorglich waren. Das weckte meine Neugier auf ihre politischen Ideale.
Gab es da einen spezifischen Moment, der Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Ja, einen prägenden. Ich traf Yehuda Shaul von Breaking the Silence und erzählte ihm von den Führungen, die ich während meiner Dienstzeit in Hebron gab. Er lud mich ein, an einer seiner Touren teilzunehmen. Ich ging mit und hörte seine Version der Geschichte über den Ort, den ich so gut kannte.
Während der Tour sprach Yehuda acht Stunden – eine Flut an Informationen, die ich nie gehört hatte. Ich kam in einem Schockzustand nach Hause; ich konnte mich an kein einziges Wort erinnern. Er schien mir glaubwürdig, auch wenn ich dachte, dass er übertrieben hatte. Heute, sieben Jahre später, bin ich Yehudas Nachfolgerin und leite genau die Touren, die er einst führte.
Können Sie uns dazu Näheres sagen?
Nach 1967 zog eine Gruppe Siedler los, um aus religiöser Motivation die Kontrolle über Hebron zu übernehmen, mit dem klaren Plan, die Palästinenser umzusiedeln. All das wurde von der Armee und vom Staat unterstützt – seit 1967 wollten alle Hebron haben.
Aber damals dachten Sie, das sei übertrieben?
Total. Damals glaubte ich immer noch an die Geschichte, dass wir uns bloss selbst verteidigten und Kontinuität heilig sei.
Wie sehen Sie es heute?
Ich liebe diese Geschichte noch immer, die biblischen Erzählungen. Aber ich schätze die Bibel als Literatur, daher ist es nicht länger wichtig, ob unsere Vorfahren dort beerdigt sind oder nicht. Heute sehe ich den Text auch als teilweise naiv, ein Gewebe aus Mythologie, Legende und Midrasch. Es ist keine absolute Wahrheit. Abraham ist auch Ibrahim, unser aller Vater, von Juden und Muslimen zugleich. Sogar im Gewölbe gibt es Spuren der beiden Glauben.
Wie rechtfertigten Sie die jüdische Präsenz dort?
Wir erzählten uns ja immer, dass andere uns zu verfolgen und zu zerstören suchten – und wir doch immer zurückkehren würden.
Aber dann kam Baruch Goldstein. Zuerst hielt ich ihn für ein schwarzes Schaf, ein kleines Missgeschick, das nichts an der heiligen Kette der Generationen ändern würde. Dann lernte ich von Yehuda, dass, nachdem Goldstein neunundzwanzig muslimische Gläubige getötet und Hunderte von ihnen verletzt hatte, die Palästinenser unter eine zweimonatige Ausgangssperre gestellt wurden. Sie zahlten den Preis für das Massaker. Soldaten behaupteten, dies sei zu ihrem Schutz geschehen. Aber das war der Punkt, an dem sich die Trennung zwischen Juden und Palästinensern wirklich vertiefte.
Daraus ist ein Muster entstanden: Wann immer Juden Palästinenser töten, werden Letztere in Form einer Ausgangssperre «in Schutz» genommen.
Würden Sie sagen, dass das damals begann?
Ja. Unmittelbar nach dem Goldstein-Massaker wurden zwölf Palästinenser bei einem Fluchtversuch von der Armee erschossen, einige auch während der Beerdigung der Opfer. Es ist eine kleine Stadt, jeder kennt jeden, und alle wurden zur Strafe zwei Monate lang in ihren Häusern eingesperrt.
Ich hatte zuvor nie etwas davon gehört. Auch nicht davon, dass während der Zweiten Intifada fünfhundert Tage eine totale und vierhundert weitere eine teilweise Ausgangssperre verhängt wurde. Es gab sechs Monate, während derer niemand das Haus verlassen durfte: keine Arbeit, kein Geld, kein Essen, keine medizinische Versorgung ausser gelegentlicher humanitärer Hilfe. Wer immer nach draussen ging, riskierte, verhaftet oder erschossen zu werden.
Wann war die Situation am dramatischsten?
Zwischen 2000 und 2003. Ungefähr eintausend Israelis und dreitausend Palästinenser wurden getötet oder verletzt. Yehuda erzählte mir von Raketen, die auf die Nachbarschaft ausserhalb Hebrons abgefeuert wurden, von Soldaten, die jeden Abend zur gleichen Zeit in Wohngegenden auf die Strassen gingen und schossen. Und ich realisierte, dass ich dort gedient hatte – total blind.
War das der Höhepunkt der Tragödie um Hebron?
Ja, obwohl es heute in den Hügeln von Süd-Hebron sogar noch extremer ist. Seit dem 7. Oktober mussten die Bewohner von siebzig palästinensischen Gemeinden ihre Häuser verlassen.
Können Sie beschreiben, was dort seit dem 7. Oktober geschieht?
Es ist eine neue Welt. Soldaten, welche die Palästinenser beschützen sollten, wurden in den Kampf nach Gaza oder in den Libanon geschickt. Jene, welche noch da sind – von Ben-Gvir bewaffnete Siedler –, sind zur De-facto-Armee geworden. Über Nacht haben sie uneingeschränkte Macht erhalten. Ihre erste Tat war, die Palästinenser in ihren Dörfern einzusperren, indem sie jeden Ein- und Ausgang mit Geröll, eisernen Toren oder Haufen von Felsblöcken blockierten. Dann stellten Sie Wachposten auf. Die Dörfer wurden zu Gefängnissen.
Und wenn jemand im Dorf einen Herzinfarkt erleidet?
Dann tragen sie ihn zum Checkpoint und rufen die Armee. Manchmal kommt sie. Manchmal kommt sie nicht. Die Angst wird täglich grösser.
Wie gestaltet sich heute das tägliche Leben?
Es ist ein endloser Terror. Siedler gehen mit Schlagstöcken in die Dörfer, brechen den Leuten die Knochen, schlagen ohne Scham Frauen zusammen. Sie attackieren auch jüdische Friedensaktivisten, Freunde von mir, und brechen ihnen mit Knüppeln die Arme. In den letzten sechs Monaten gab es 3600 Fälle von Siedlergewalt gegen Palästinenser und jüdische Aktivisten. Ungefähr 1800 Menschen wurden verletzt. Aber es ist nicht bloss der physische Schaden. Ihre Leben werden zerstört. Schäfer können ihre Herden nicht länger weiden lassen und die Landwirtschaft kollabiert. Sie müssen ihr Essen kaufen, und das ist teuer, aber es gibt keine Arbeit und somit kein Geld. Schafe und Ziegen verschwinden, jeden Tag werden Tierkadaver auf den Weiden gefunden. Es herrscht die schiere Anarchie.
Gibt es in diesem Sodom noch aufrichtige Seelen?
Hier zeigt sich die Dynamik der Jahre. Die Siedler sind entschlossen; die Soldaten sind jung, erschöpft und wollen nach Hause. Sie sehen, dass Schafe geschlachtet werden, Brunnen vergiftet, und die Polizei ignoriert das alles. Sie sehen Politiker wie Smotrich, welche die Zerstörung anfeuern und die Siedler belohnen, und sogar der Präsident hält am Grab der Patriarchen eine Rede. Weshalb sollte also ein 19-jähriger Soldat sich gegen die Siedlergewalt stellen, wenn ihr alle ihren Segen geben?
Glauben Sie, dass sich die Dinge verändern werden, wenn diese Regierung fällt und beispielsweise Bennett oder Lieberman übernehmen?
Die Siedler benehmen sich so, weil sie totale Straffreiheit geniessen. Sie wissen, dass sie nie inhaftiert werden. Unter einer anderen Regierung mögen sie diesbezüglich aber weniger Sicherheit haben. Der internationale Druck könnte wachsen. Letztlich war es der Einfluss Trumps, der den Krieg in Gaza zum Stillstand brachte. Vielleicht könnte ähnlicher Druck den Missbrauch in den Gebieten beenden. Vielleicht ändert sich etwas bei der Polizei, vielleicht wird es nicht länger eine Lizenz dafür geben, Knochen und Schädel mit Schlagstöcken brechen zu dürfen.
In Umm al-Kheir, wo der Lehrer Odeh al-Hadhaleen durch den Siedler Yinon Levi erschossen wurde, baten die Dorfbewohner die jüdischen Aktivisten, in Campern beim Zugang zum Dorf zu wohnen, um sie zu beschützen. Halten Sie das für realistisch?
Nicht wirklich. Die Siedler wissen genau, wen sie in diesen Campern platzieren; jemanden wie Sie [Ari Folman] würden sie dort nie wohnen lassen. Dies ist eine schöne Idee, aber fern der Realität. Als Aktivisten haben wir noch einen langen Weg vor uns und müssen kreative Taktiken finden. Und wenn wir müssen, dann ja, verkleiden wir uns als Siedler, fahren einen Gratis-Camper in ein palästinensisches Dorf und verteidigen unsere Nachbarn, bis wir rausgeschmissen werden.
Wie haben Ihre Eltern auf Ihre Verwandlung reagiert?
Meine ältere Schwester hatte den Weg ja schon geebnet, es war also einfacher, als ich an der Reihe war, speziell für meinen Vater. Meine Eltern liessen sich nach meinem Auszug scheiden. Mein Vater lebt immer noch in der Siedlung, nicht aber meine Mutter. Meine Schwester outete sich vor einigen Jahren als lesbisch, und politisch sind sie und ich die einzigen, die die Seite gewechselt haben. Unsere jüngeren Brüder verharren entschlossen auf der rechtsnationalen Seite, auch wenn sie nicht religiös sind.
Und Ihre Jugendfreunde aus der Siedlung?
Während der letzten zwei Jahre, während des Krieges, war es schwierig, Kontakt zu halten. Wegen des Gaza-Kriegs distanzierte ich mich von vielen Leuten; ich ertrug die Diskussionen nicht mehr. Aber seit Kurzem suche ich den Weg zurück, zumindest zu den alten Freundschaften. Gestern besuchte ich eine Hochzeit von Jugendfreunden aus der Siedlung und es gab keine Spannungen. Ich fühle mich akzeptiert, weil ich mit meinem Weg Frieden geschlossen habe.
Als ich Sie auf Ihrer Führung durch die Hügel von Süd-Hebron begleitete, sah ich Freiwillige aus Europa und Amerika, jüdische Männer und Frauen, die an der Seite der Palästinenser leben und sie nach Kräften beschützen. Ich sah Rabbis for Human Rights, religiöse Juden, die viel riskieren, um den Vertriebenen Essen zu bringen. Ich sah Vertrauen, Freundlichkeit und Menschen, die sich dafür einsetzen, die Realität zu ändern.
Das ist richtig. Über die Jahre sind echte Freundschaften zwischen jüdischen und palästinensischen Aktivisten entstanden. Es kommen laufend Freiwillige aus Israel und dem Ausland. In diesem Chaos ist es manchmal leichter, Hoffnung zu schöpfen, wenn man zumindest etwas tut. Nicht nur zu Hause sitzt und über die Sinnlosigkeit und Verzweiflung lamentiert, sondern etwas zu verändern sucht.
Wo werden Sie in zehn Jahren sein?
Ich hoffe, dass bis dahin weder ich noch meine Organisation gebraucht werden. Dass dieser Konflikt gelöst sein wird. Wenn man sich in dieser Arbeit engagiert, aktiv ist, muss man daran glauben, dass das möglich ist.
Und wie könnte es möglich sein? Wo werden all diese Siedler hingehen?
Wohin sind all die Bewohner von Gush Katif gegangen? Sie haben ihren Weg gefunden, sie haben sich anderswo niedergelassen.
Das waren siebenhunderttausend Menschen!
Wo gingen denn all die französischen Kolonisten in Algerien hin – eine Million von ihnen? Auch sie fanden ihren Weg. Die Siedler werden einen neuen Sinn für sich selbst finden. Schauen Sie, wie schnell dieses Land messianisch und gewalttätig geworden ist; mit der gleichen Schnelligkeit, glaube ich, kann es sich in die andere Richtung drehen. Und wir werden dazu fähig sein, neu zu beginnen.