nahost 21. Nov 2025

Die «Hügeljugend» ist ausser Kontrolle geraten

Demonstranten und israelische Sicherheitskräfte gerieten im November beim Abriss der illegalen israelischen Siedlung Tzur Misgavi im Westjordanland aneinander.

Aus jugendlichen Aussteigern wurde eine radikale Kraft im Westjordanland – sie bauen illegale Aussenposten, attackieren Palästinenser und zunehmend auch Israels eigene Ordnungskräfte.

Es begann als Sozialarbeit für jugendliche Randgruppen aus Israels Städten. Schulaussteiger, schwer erziehbar, einige obdachlos, manche auch schon vorbestraft. In Israels Siedlungen im Westjordanland suchten und fanden sie Freiräume. Am Anfang als sporadische Auszeiten vom Grossstadtstress, die viele dann in einen Daueraufenthalt als Siedler führten. «Hügeljugend» werden sie meist genannt. Klingt nach freier Natur, Sonne, Berg und Tal. Aus denen sich dann aber vermummte Banden bildeten, die tagtäglich über ihre palästinensischen Nachbarn herfallen. «Keiner kann uns aufhalten.»

In den Siedlungen finden die jungen Leute seit den 1980er Jahren offene Ohren, ein Bett und ein Dach. Und Sinn. Die Möglichkeit, etwas zu schaffen. Bauen als Ideal. Als Ideologie. Mit der Zeit wurden ihnen die etablierten Siedlungen mit ihren kleinen Villen unter roten Dächern zu eng. Zu spiessig. Es zieht sie hinaus. Wo sie sich ihre eigenen Hütten bauen. Aus dünnen Holzplatten und Wellblech, auch umfunktionierte Gütercontainer sind dabei. Aus den Siedlungen, die sie verliessen, kommen Unterstützung, Antrieb und der Blick auf die Welt. Auf jedem freien Hügel soll eine Siedlung entstehen, kommentierte seinerzeit der verstorbene Premier Ariel Scharon die Aktionen der «Hügeljugend». Die Schüler wollen die Lehrer übertreffen: «Wir kehren zurück zu euren alten Idealen.»

Legalisierte Siedlungen
Was sie geschafft haben. Heute bedecken die auch nach israelischem Recht illegalen Siedlungen mehr Bodenfläche als die legalen. Mehr neu als alt, mehr illegale als legale. Das, nachdem durch verschiedene Gesetzesänderungen ein beträchtlicher Teil legalisiert werden konnte.

Die «jungen Wilden» lassen sich «naturbelassene» Schläfenlocken wuchern. «Prophetisch» wollen sie aussehen. Die Frauen tragen lange Kleider, Kopftücher. Fromm soll es aussehen. Frömmigkeit mit urbaner Stras-senkampf-Vergangenheit – die keine Ordnung anerkennt, die sich gegen Hierarchien auflehnt. Mit dem Gesetz hatten sie schon im alten Leben ihre Probleme. Jetzt lernen sie die Mizwot. Zu Beginn ohne fliessend Wasser und Strom. Bis irgendwann aus der nächsten Siedlung illegale Leitungen gelegt werden. Urig muss es sein. Auch ihr Verständnis von Thora und Mizwot. Zelotisch. Meist hören sie aus zweiter Hand extremste Auslegungen der Gebote, die in den Siedlungen nicht selten zu hören sind. Jewish supremacy. Etwa: «Ungläubige töten ist besser als sie zu vertreiben.»

Ein Leben ohne Kompromisse und ohne tiefes Verstehen. Ein Leben auch ohne Rabbiner. Sollte es eine Frömmigkeit ohne Gott geben, muss sie hier zu finden sein.

Nachbarn als Feind
Wer in seiner Vergangenheit ausgestossen am Rande stand, findet hier Zukunft. Hoch oben. Mit dem Blick herab. Auf die anderen. Die schon in der Stadt immer der Feind waren. Die jungen Aussteiger führen oft ein Leben wie ihre palästinensischen Nachbarn: Ziehen herum als Ziegenhirten, bauen mit einfachem Werkzeug Gemüse an. Trotzdem sind die Nachbarn der Feind. Über den sie herfallen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Felder und Dörfer sind gefährlich wie die Strassen der Stadt. Wer Angst kennt, weiss sie zu verbreiten.

Anlass dazu gibt es immer. Terroranschläge auf Siedler provozieren immer wieder Rache-Angriffe auf Palästinenser. Seit dem 7. Oktober 2023 genügt allein schon deren Präsenz nebenan, um ein Pogrom zu starten. Brunnen zu verschmutzen, Scheunen und Autos zu verbrennen. Bereits Jahre zuvor, 2015, verbrannte im Dorf Duma eine Familie bei einem Brandanschlag jugendlicher Siedler. Kleinkind, Mutter, Vater. Der Angreifer wurde wegen dreifachen Mordes schuldig gesprochen. Von einem weltlichen Richter, dessen Autorität er nicht anerkannte. So wenig wie den Staat Israel und dessen Gewaltmonopol. Sie bekennen offen, dass sie stattdessen ein biblisches Königreich anstreben. Ein jüdisches Kalifat.

Jüdische Terroristen
Die Gesetze wie der Premier haben sich seit dem Todesanschlag von Duma nicht verändert. Doch die Entrüstung über Anschläge gegen Palästinenser wurde nach 7/10 leiser. Wie die Strafverfolgung gegen jüdische Terroristen unter der neuen Regierungskoalition schwächer wurde. Seit ihrem Amtsantritt und noch deutlicher seit Kriegsbeginn kletterte die Zahl der «Anschläge mit nationalistischem Hintergrund» immer höher. 1575 waren es seit Kriegsbeginn. 704 wurden allein im letzten Jahr gemeldet. Von den israelischen Behörden. Die Zahlen der UNO liegen noch höher.

In einer seiner ersten Amtshandlungen hob der 2024 neu ernannte Verteidigungsminister Israel Katz die Vorbeugehaft, den Administrationsarrest aus den Restbeständen des britischen Kolonialrechts, gegen Juden auf. Da waren die Angriffe der Hügeljugend schon weltweit in den Schlagzeilen. Jetzt hat er ein Problem mit dem Zurückrudern. Immer häufiger greifen junge Siedler auch Juden an. Schon vor vielen Jahren holten sich meist linke israelische Menschenrechtsaktivisten blutige Köpfe, wenn sie palästinensischen Bauern bei der Olivenernte halfen. Als menschliche Schutzschilder. Zur Ernte im Herbst sind die Bauern in ihren Hainen bevorzugte Opfer systematisch organisierter Angriffe der Hügeljugend.

Oft in Uniform, um die problematischen Halbwüchsigen unter Kontrolle zu halten, wurden einige trotz ihrer Vorstrafen von der Armee rekrutiert. Zu Wachaufgaben in den Siedlungen in einer Sondereinheit. Der Kooptationsversuch scheiterte kläglich. Mit Waffen und in Uniform gestalteten sich die Angriffe noch wirkungsvoller. Nach wenigen Jahren löste die Armee die Einheit auf. Ehemalige treten aber weiter in Uniform auf. Wobei sie sogar reguläre Soldaten angreifen, die vor Ort Anschläge verhindern wollen. Soldaten dürfen nicht direkt gegen angreifende israelische Staatsbürger vorgehen, zu deren Bewachung sie abgestellt sind. Ein Emoji mit Augenzwinkern hätte an dieser Stelle breiten Platz. Soldaten, die ihre Aufgabe ernst nehmen, alarmieren die Polizei.

Bis die Polizisten es an den Tatort schaffen, sitzen die Angreifer schon wieder an ihrem Küchentisch im Wohncontainer. Die Polizei weiss, dass Itamar Ben Gvir, der Minister für Innere Sicherheit, es mit der Sicherheit für Palästinenser nicht so ernst nimmt. Einsatz-eifer wird nicht belohnt. Ein Polizist, der von Siedlern mit Pfefferspray und Steinwürfen massiv bedrängt wurde, gab zwei Warnschüsse ab. Die Angreifer zeigten ihn an, der Polizist wurde stundenlang verhört.

Hickhack um Verantwortung
Polizei, Geheimdienst und Armee sollten eigentlich Hand in Hand arbeiten. Stattdessen schieben sie sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Der Geheimdienst hat gegen jüdischen Terror nur wenig Personal und Mittel. Die Armee erwartet trotzdem bessere geheimdienstliche Vorwarnung. Der Generalstab ist sauer, weil immer mehr Kräfte für den Kampf gegen jüdischen Terror abgestellt werden müssen, die dann im Kampf gegen palästinensische Terroristen fehlen. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Polizei, doch die fühlt sich von oben gebremst. Zu Anklagen kommt es mangels Beweisen selten. Chaos sieht ordentlicher aus. Doch die von oben gesteuerten Bremsen lockern sich jetzt. Israels Regierung konnte verprügelte Palästinenser ignorieren. Aber verprügelte Polizisten und Soldaten? Israels Öffentlichkeit entrüstet sich wieder lauter. Israel Katz würde jetzt gerne zurückrudern, was aber nicht ohne Gesichtsverlust geht. Sogar Premier Netanjahu kann nicht länger schweigen: «Ich verurteile nachdrücklich jeden Angriff auf Soldaten. Null Toleranz für Gesetzesbrecher, die ihre Hand gegen Soldaten erheben.» Mit und über Palästinenser wird nicht geredet.

Sogar das Siedlerestablishment zeigt sich jetzt besorgt. Die Geister, die ich rief, werd ich nicht mehr los. Ausgerechnet jetzt müssen die jungen Wilden um sich schlagen? Wo doch unter der neuen Regierung der Siedlungsbau boomt wie niemals zuvor. Ein Siedlerveteran, der sich den Angreifern in den Weg stellte, musste im Krankenhaus medizinisch versorgt werden. Jetzt fordert die Siedlerführung wie die Armeeführung mehr Strassenkontrollen, die Rücknahme des Verbots für Vorbeugehaft und «aggressiveres Vorgehen» gegen die vom Hügel stürmende Jugend. Doch die lebt weiter nach ihrem Grundsatz: «Keiner kann uns aufhalten.»

Und schlägt an unerwarteter Front zurück: In den nächstliegenden Ortssektionen der Regierungspartei. Likud-Funktionäre in den Siedlungsgebieten warnen. Immer mehr Jungwähler mit wilden Schläfenlocken schreiben sich ein. In den nahenden Vorwahlen der Partei Netanjahus müssen immer mehr Likud-Kandidaten sich bei den neuen Mitgliedern lieb Kind machen, wenn sie gewählt werden wollen. Ansehensverlust in den Augen der israelischen Öffentlichkeit ist heute weder bei Siedlerlobbyisten noch bei Likud-Funktionären erwünscht. Vor Jahren galt illegale Bodenbesitznahme noch als wichtige Pionierarbeit, als hehres Ziel. Jetzt aber geht es nicht mehr gegen widerstrebende Premiers oder zaudernde Minister. Im Siedlungsbau hat die Siedlerlobby endlich selbst das Sagen. Und legale Bodenaneignung ist – nicht vergessen – ein einträgliches Geschäft. Wie nannte Finanzminister und Siedlungsbeauftragter Bezalel Smotrich doch noch im September seine Immobilienpläne im Gaza-Streifen? Genau: «Eine Goldgrube.»

Norbert Jessen