In Israels Städten verwandeln sich Mauern in emotionale Chroniken: Graffiti sind zum Ausdruck einer Gesellschaft geworden, die sich immer noch Schockzustand befindet. Wie die israelische Journalistin Naama Riba schreibt, haben Künstlerinnen und Künstler nach dem 7. Oktober 2023 begonnen, ihre Emotionen unmittelbar auf die Strassen zu bringen. Worte, Porträts, Farbspuren und Symbole ersetzen das, was sich kaum in Sprache fassen lässt. An Hauswänden von Tel Aviv bis Jerusalem erscheinen Gesichter von Entführten, gebrochene Herzen, brennende Sterne – Botschaften, die Schmerz und Solidarität zugleich ausdrücken. Die Strassenkunst wird zu öffentlicher Trauerarbeit: Sie gibt einer zutiefst erschütterten Gesellschaft eine sichtbare Stimme. Viele der Arbeiten entstehen anonym, über Nacht, im Spannungsfeld zwischen persönlicher Erinnerung und öffentlicher Aussage. Zugleich zeigt sich ein Kampf um Raum und Deutungshoheit. Manche Werke werden entfernt, andere bewusst stehen gelassen. «Die Mauern sind zu einem Ort geworden, an dem Emotionen verhandelt werden», schreibt Riba. Das Graffiti Israels ist damit mehr als Protest, es ist eine kollektive Form des Erinnerns, visuelle Verarbeitung von Gewalt und Verlust. Die «Wailing Walls» der Gegenwart, so Riba, sind keine heiligen Orte, sondern Betonfassaden. Sie bezeugen, wie tief das Erlebte in das Stadtbild eingeschrieben ist – als flüchtige, doch eindringliche Spur eines Landes im Ausnahmezustand.
israel
07. Nov 2025
Spiegel kollektiver Traumata
Redaktion