zur lage in israel 07. Nov 2025

Trigger Innenpolitik

Die Kluft zwischen den im Gaza-Krieg von Israels Regierung verkündeten Zielen und dem letztlich Erreichten klafft immer weiter. Über lange Jahre verfolgte Israel ein falsches Konzept, das letztlich in den Krieg führte und immer noch die Richtung zum Frieden behindert. Der radikal jeden Frieden mit Israel verweigernden Hamas wurden Zugeständnisse gemacht, bis hin zur finanziellen Unterstützung mit Geldern aus Katar. Der Friedensprozess mit der PLO im Westjordanland hingegen wurde auf Eis gelegt. Die in den Oslo-Abkommen ausgemachte Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde funktioniert bis heute und ihre Früchte erntet auch die rechteste aller rechten Netanyahu-Regierungen. Doch jede andere Zusammenarbeit ist eingestellt. Was sich nicht nur auf die Auszahlung der von Israel eingezogenen palästinensischen Steuergelder bezieht. So hätte kreativere israelische Politik unterstützend bei dringend fälligen Reformen Einfluss suchen können. Stattdessen blieb es bei Netanyahus Motto: Die Schwächung der PLO ist wichtiger als der Kampf gegen die Hamas.

Die immer noch propagierte Gleichsetzung der Hamas mit der PLO hat zu einer Lage geführt, in der Israel keine politische Eigeninitiative entwickelt. Israels Bündnis mit den USA reduziert sich auf ihre militärische Nutzung. Was die wirtschaftlichen Beziehungen angeht, haben die arabischen Ölstaaten die Führung übernommen. Welcher Inhalt Trump wichtiger ist, zeigt sich immer deutlicher.

Das Kriegsende ist fraglich. Ansätze, die Waffenruhe in eine Dauerform zu pressen, wickeln sich im Nebel ab. Internationale Kontrolltruppen? Technokratenkabinett? Die einen sagen so, die anderen so. Trump sagt dazu nichts Nachhaltiges, er raunt und poltert weiter. Nur die Hoffnung bleibt, dass es hinter den Kulissen gesprächiger zugeht. Stufe 1 der 20 Punkte ist ohne Abschluss der Geiselrückkehr – tot oder lebendig – unvollendet. Daher kann Stufe 2 mit dem Wiederaufbau des Gazastreifens nicht beginnen. Wobei «unvollendet» in Nahost mehr Ewigkeitsanspruch hat als eine Schubert-Sinfonie.

Stufe 2 könnte vorverlegt werden, aber für Netanyahus Regierung wäre das eine Bestandsprobe, die nur nach einem Machtwort aus Washington Aussichten hätte. Washington verhindert derzeit allzu scharfe Reaktionen auf Hamas- oder Hisbollah-Provokationen. Es hält das US-Veto gegen Gebietsannexionen aufrecht, von denen die Siedler-Lobby weiter träumt. Wobei der erforderliche aussenpolitische Durchbruch zu neuen Verhandlungen ausbleibt.

Umso entschlossener wenden sich die Minister ihren innenpolitischen Initiativen zu. Dabei mangelt es ihnen keineswegs an Eigeninitiative. Als habe es niemals einen Krieg nach aussen gegeben, nehmen sie den Krieg nach innen wieder auf. Trotz Kritik aus allen Richtungen lauert die Regierung auf eine Gelegenheit, das neue Rekrutierungsgesetz (sprich Drückeberger-Gesetz) doch noch in der Knesset durchzubringen, was aber aufgeschoben wurde. Zum Trost gab es in erster Lesung ein Gesetz, das die Befugnisse der in Israel für Personenstandsangelegenheiten zuständigen Religionsgerichte ausweitet. Wofür im Gegenzug die orthodoxen Abgeordneten für ein den rechten Parteien kompatibleres Mediengesetz stimmten. Soll heissen: Schalldämpfergesetz für oppositionelle Stimmen.

In ihrem seit Beginn der Waffenruhe wieder verstärkten Ansturm auf die Justiz erhielt die Regierung unerwartete Unterstützung durch einen Fehltritt der Militärstaatsanwältin. Jifat Tomer-Jeruschalmi, Israels zweite Frau mit den Schulterklappen eines Generals, hatte eine Indiskretion ihrer Ermittler in der Militärpolizei abgesegnet. Sie ermittelten gegen fünf Soldaten, denen die körperliche Misshandlung eines Hamas-Gefangenen vorgeworfen wird. Dabei hatten die Ermittler einen Videoclip an den TV-Sender 12 durchsickern lassen. Für wenige Sekunden zeigte er Aufnahmen der Misshandlung des Gefangenen.

Zuvor hatten die ultrarechten Koalitionsparteien eine breit angelegte Fake-News-Kampagne gegen die Militärpolizei und -staatsanwaltschaft eröffnet. Mit dem Vorwurf, diese hätten sich gegen die «armen tapferen Soldaten» mit einer «verräterischen Blutlegende» verschworen, «um die Hamas zu unterstützen». Im Selfie-Zeitalter eigentlich ein harmloses Vergehen, für das gerade Netanyahus Minister Verständnis zeigen sollten. Selbst der Premier ist mit seinen persönlichen Clips oft schneller als sein Sprecher mit offiziellen Stellungnahmen. Doch Netanyahu zeigte keine Gnade: «Das ist der schwerste PR-Anschlag seit Israels Staatsgründung.» Drunter geht es nicht.

Damit nicht genug. Als nach der undichten Stelle in der Militärjustiz gesucht wurde, stritt die Staatsanwältin ab, von der Veröffentlichung des Clips gewusst zu haben. Vor dem Armeechef und auch vor dem Obersten Gericht bestritt sie, eingeweiht gewesen zu sein, was zu ihrem erzwungenen Rücktritt und ihrer Verhaftung führte. So weit, so schlecht. Aber immer noch kein Ende: Netanyahus Söldner im Krieg gegen die Justiz weiteten letzte Woche ihre Angriffe von der Militärstaatsanwältin auch auf die Generalstaatsanwältin Galia Baharav-Miara und den gesamten Justizapparat aus. Nicht die ungeheuerlich aufgequollene Korruption in Politik und Wirtschaft wurde als Ursache der weit verbreiteten Lügenkultur angegriffen, sondern die Gesetzeshüter in Justiz, Polizei und Geheimdiensten wurden als Verursacher bezeichnet.

Noch im Sommer 2024 – nach Bekanntwerden der Ermittlungen – stürmte ein Mob nach einem Whatsapp-Aufruf rechter Parteien ein Militärgefängnis und prügelte auf Wachsoldaten ein. Alles im Beisein ultrarechter Abgeordneter und eines Ministers. Der wiederum weigerte sich in den anschliessenden Ermittlungen der Polizei, einer Vorladung zum Verhör zu folgen.

Jetzt hat die Anklage gegen die fünf Folterer kaum noch Aussichten auf Erfolg. Der misshandelte Palästinenser wurde «in Richtung Gaza» entlassen. Er war plötzlich doch kein Nukhba-Angreifer vom 7. Oktober 2023 und fällt daher als Kronzeuge aus. Nach Ansicht der «Justizkritiker» ist die Straftat keine Falschanklage. Vielmehr sehen sie Misshandlung von Gefangenen als straffreie Norm. Dass die Staatsanwaltschaft durch ihre eigenen Ermittlungen Israels Soldaten vor internationaler Strafverfolgung als Kriegsverbrecher schützt, ist den Extremisten in Netanyahus Gruselkabinett unwichtig. Sie wollen das Verbrechen zum ungestraften Gesetzesprinzip mutieren lassen.

Ausgerechnet letzte Woche jährte sich das Attentat auf Itzhak Rabin zum 30. Mal. Anders als in den letzten Jahren kamen diesmal Zigtausende zur Gedenkveranstaltung, zu einem Gedenken an Normen und Prinzipien aus einer anderen Zeit. Die Medien holten fast schon vergessene Tonaufnahmen aus den Archiven. Nach der erfolgreichen Geiselbefreiung auf dem Flughafen von Entebbe lobte Rabin die zurückkehrenden Elitesoldaten. Nach einer fehlgeschlagenen Geiselbefreiung trat Rabin mit klaren Worten vor die Mikrofone: «Die Soldaten gaben ihr Bestes. Für den Fehlschlag übernehme ich die Verantwortung.» Seither hat in Jerusalem kein Premier mehr so etwas gesagt.

Norbert Jessen ist Journalist und lebt im Süden Israels.

Norbert Jessen