Präsidentin Nadia Guth Biasini und Direktorin Naomi Lubrich über das neue Jüdische Museum der Schweiz, Gegenwart und Zukunft von Vermittlungsarbeit und politische Verortungen.
tachles: Das älteste jüdische Museum im deutschsprachigen Europa wird sozusagen zum jüngsten: neuer Standort und neues Ausstellungskonzept. Was ist der neue Ansatz für die Dauerausstellung?
Nadia Guth Biasini: Neu ist neben der ganzen Gestaltung der Aufbau der Ausstellung, aber auch der Einbezug von Kunst. Diese illustriert und ergänzt oftmals die Ausstellung, gelegentlich präsentieren zeitgenössische Positionen und Installationen jedoch ein eigenes Thema. Die chronologische Erzählung ist nun durch die thematische Präsentation der bedeutenden Sammlung ergänzt.
In den letzten Jahren haben sich die Anforderungen an Museen generell gründlich verändert. Was haben Sie vor diesem Hintergrund und für die Zukunft neu gedacht?
Naomi Lubrich: Als Nadia Guth Biasini als Präsidentin und ich als Direktorin 2015 neu dazukamen, präsentierte das Museum Judentum vorwiegend anhand der Festtage, des Lebens- und Jahreszyklus. Das war damals richtig, weil Nichtjuden kaum etwas über das Judentum wussten und die Feiertage einen schönen Zugang zur Religion bieten. Es war wichtig, den Besuchern ein schönes Bild der jüdischen Rituale zu geben, im Gegensatz zu den Zerrbildern der Nazis, den hässlichen Judenkarikaturen etwa aus dem «Stürmer». Mit den Jahren wuchs das Wissen um die Religion. Man kannte viele Festtage. So wählten wir 2016 einen neuen Ansatz: Wir wollten die Vielfalt des Judentums ausstellen, Religiöses wie Säkulares, Liberales und Orthodoxes. Mittlerweile sind auch diese unterschiedlich gelebten Judentümer angekommen. Für diese Ausstellung wählten wir einen soziologischen Zugang. Wir zeigen das Leben in den jüdischen Gemeinden. Wir zeigen, was Gemeinschaft fördert, wie es den Gemeinden gelungen ist, über Jahrhunderte zusammenzuhalten – aber auch, wo die Risslinien verlaufen.
Wo sehen Sie denn für ein jüdisches Museum die Pflicht, wo Kür?
Nadia Guth Biasini: Pflicht ist sicher, eine Einführung in das Judentum, das jüdische Jahr und Leben und die Lehre zu geben. Die Frage ist, wie man diese Fragestellungen präsentiert. Nun haben wir hier eine neuere Präsentation, welche der Ausstellung zugrunde liegt. Ob man von Kür sprechen kann, weiss ich nicht. Ich finde alles, was wir zeigen, letztlich erklärend, konstitutiv für Identitäten.
Naomi Lubrich: Pflicht ist, das jüdische materielle Kulturerbe der Schweiz zu bewahren, eine Anlaufstelle für Familien zu sein, die ihre Objekte und Geschichten für die kommenden Generationen zugänglich machen möchten. Kür sind die persönlichen Begegnungen und Angebote, die wir ermöglichen: Führungen, Workshops, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte.
Wo sehen Sie sich in Abgrenzung etwa zu den jüdischen Gemeinden?
Nadia Guth Biasini: Wir sind erklärend unterwegs. Wir zeigen und erklären. Zudem bietet das Jüdische Museum eine eher neutrale Plattform an, die gerade in Zeiten mit zunehmendem Antisemitismus eine Anlaufstelle sein kann, die vielleicht eher als neutral beurteilt wird. Man kann kommen und Fragen stellen; wir können erklärende Brücken bauen.
Das Museum grenzt an den ehemaligen jüdischen Friedhof am Petersplatz an, unweit davon die ersten jüdischen Ansiedlungen oder eben um die Ecke das Spalentor als Zollhürde für jüdische Passanten. Wie wichtig ist für ein Museum der Standort in einer traditionell jüdischen Kontextualisierung?
Nadia Guth Biasini: Ich finde das sehr wichtig. In unserer näheren Umgebung gibt es viele Orte, wo Juden gelebt haben und heute noch leben, der historische Friedhof war hier, und durch das Spalentor kamen die Juden nicht nur für den Markt nach Basel. Zogen Sie nach Basel, so fuhren sie ebenfalls durch das Spalentor.
Wie blicken Sie, Naomi Lubrich, nach zehn hier verbrachten Jahren auf den Basler Lokalkolorit, wie beeinflusst diese Perspektive die Ausstellung?
Naomi Lubrich: Für unser Publikum ist es interessant, dass das Judentum in der Schweiz anders ist als in den benachbarten Ländern. Hier hat man in der Regel die Schoah überlebt. Familien wurden nicht auseinandergerissen, sie blieben intakt. Und seit den 1960er Jahren gibt es in der Schweiz eine ungewöhnliche Vielfalt jüdischer Kulturen. Neben aschkenasischen Familien leben hier auch sephardisch-maghrebinische, insbesondere in der Romandie. Auch das ist besonders.
Wobei diese unterschiedlichen Kulturen von Einwanderern geschaffen wurden, nicht von den Schweizer Viehhändlern.
Naomi Lubrich: Ja, eben: Wo sonst haben Sie Schweizer Viehhändler? Wir haben hier ländliches Judentum, ausgehend vom Elsass und von Endingen und Lengnau. Aber es gibt hier auch ein urbanes Judentum, wie die Basler Familie Dreyfus mit einer Bank, die seit sieben Generationen in einer Familie ist. Ich kenne wenige Länder mit ungebrochener jüdischer Geschichte seit 1813.
Was heisst das letztlich für die Entwicklung einer Dauerausstellung?
Naomi Lubrich: Zuerst haben wir überlegt, was wir gegenüber der alten Ausstellung verändern möchten. Ein Wunsch war, mehr aktuelles Judentum zu zeigen, und wir machen das durch zeitgenössische Stimmen in der Kunst. Es gibt eine lebendige jüdische Kunstszene, die das Judentum aus einer heutigen Perspektive kommentiert. Das zeigen wir.
Was planen Sie im Bereich Rahmenprogramm und Vermittlung?
Nadia Guth Biasini: Gute Medienstationen führen auch in die heutige Zeit ein. Und wir bieten ebenso auf dem Rundgang eine Musikstation an.
Naomi Lubrich: In der Vermittlung sind wir flexibel. Wir können auf die politische Situation schnell reagieren. Seit dem 7. Oktober 2023 bieten wir beispielsweise jüdisch-muslimische Führungen an und klären zum Nahostkonflikt auf. Die Führungen fanden starken Zuspruch.
Das JMS wäre ohne private Finanzierung nicht denkbar, eine Grundabdeckung durch den Staat gibt es nicht. Was heisst das für Sie?
Nadia Guth Biasini: Das Museum bringt natürlich finanzielle Herausforderungen mit sich, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Ein Vorteil ist, dass wir auf diese Weise unabhängiger entscheiden können. Ich hoffe aber eigentlich, dass für den Betrieb mehr staatliche Mittel kommen, die jetzt schon für die Sicherheit zur Verfügung gestellt werden. Die Stadt Basel trägt mit dem Budgetpostulat vier Jahre lang wesentlich zu den Ausgaben für die Personensicherheit bei, der Bund in einem kleineren Rahmen, jedoch vermutlich längerfristig.
Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo jüdische Museen durch den Staat getragen werden...
Nadia Guth Biasini: Wir haben uns um Bundesmittel bemüht und eine aufwendige Eingabe für immer noch bescheidene, für uns jedoch essentielle Mittel ans BAK geschickt. Die wurde aber ohne eine – eigentlich zu erwartende – Begründung abgelehnt, was ich nicht verstehe.
Dabei geht es ja immerhin um das Jüdische Museum der Schweiz.
Nadia Guth Biasini: Ja, und ich finde diese Ablehnung seltsam. Bislang hat der Bund immer kleinere Museen unterstützt. Dies scheint sich seit diesem Jahr geändert zu haben. So erhält beispielsweise das Verkehrshaus Luzern zusätzliche Mittel. Eigentlich verstehe ich nicht, weshalb eine finanzielle Unterstützung unseres Betriebs durch den Bund nicht zustande kommt. Dies müsste doch möglich sein.
Wie erklärt sich der markante Unterschied zu anderen Ländern in der schweizerischen Haltung gegenüber jüdischen Anliegen?
Naomi Lubrich: Dass sich der Bund nicht verantwortlich fühlt, jüdische Kultur zu unterstützen, kann man positiv und negativ sehen. Positiv vielleicht, dass die Schweiz die jüdischen Gemeinden als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft sieht und nicht anders als jedwede andere Gemeinde behandelt. Aber sie sollte das, denn – wir kommen zum Negativen: die Aufarbeitung der eigenen antisemitischen Vergangenheit und der Verflechtungen mit Nazideutschland hat hier spät begonnen und ist noch nicht durch.
An Ihrem Standort in Basel zumindest haben Sie grossen politischen Support.
Nadia Guth Biasini: Ja, derzeit sind wir froh, in Basel zu sein, wo der Grosse Rat das Projekt sehr unterstützt und einstimmig für die Investition gestimmt hat. Ebenso stärkt uns die aktuelle Regierung den Rücken. In Genf wäre unsere Lage weit problematischer.
Ist Basel für das Jüdische Museum der Schweiz der richtige Ort?
Nadia Guth Biasini: Ja, schon deshalb, weil hier die älteste Gemeinde der Schweiz entstand. Erhalten sind einige Basler Grabsteine, die zu den ältesten überhaupt gehören und sehr wichtige Dokumente darstellen.
Naomi Lubrich: Es gibt vier Momente der Schweizer jüdischen Geschichte, die Basel zu einem prädestinierten Ort machen: Erstens die Ausgrabung des Menora-Rings aus dem römischen Kaiseraugst nahe Basel, des ältesten Zeugnisses einer jüdischen Präsenz auf dem Boden der Schweiz. Zweitens war Basel Heimat der ältesten mittelalterlichen jüdischen Gemeinde. Von ihr sind zahlreiche Grabsteine und Grabsteinfragmente erhalten. Drittens fanden in Basel der erste Zionistenkongress und neun weitere vor der Staatsgründung Israels statt. Und viertens war in Basel die Geschichte der Schoah besonders präsent. Über die Basler Grenzen sind tausende Flüchtlinge in die Schweiz gekommen. Dies gesagt ist es kein Naturgesetz, dass es in der Schweiz nur ein Jüdisches Museum gibt. Andere Länder haben viele. Österreich hat beispielsweise drei, Deutschland über 40.
Worin unterscheidet sich denn der Standort Basel?
Nadia Guth Biasini: Basels Offenheit – in Basel wurde ja 1460 die älteste Universität der heutigen Schweiz gegründet – zieht natürlich entsprechende Kapazitäten an. Auch die bedeutende Pharmaindustrie und die Biotech-Unternehmen machen Basel zu einer eigentlich kosmopolitischen Stadt. Sie ist zwar einerseits lokal, hat aber anderseits auch eine starke internationale Seite.
Auf welches Publikum wurde die Neugestaltung des Museums ausgerichtet?
Naomi Lubrich: Die drei Etagen ziehen jeweils unterschiedliche Besucher an. Die Sonderausstellungen im Erdgeschoss bieten regelmässig neue Themen für die wiederkehrenden Besucher aus der Region an. Das Thema Religion im zweiten Obergeschoss ist bei den Primarschulen beliebt. Viele lernen bei uns das Judentum zum ersten Mal kennen. Im dritten Stock zeigen wir die jüdische Geschichte der Schweiz für Sekundarschulen, historisch Interessierte und Touristen.
Nadia Guth Biasini: Unter den Touristen gibt es ja auch solche, die schon in Basel waren, einige verbrachten sogar die Kriegsjahre hier.
Der Umbau wurde vom Basler Architekten Roger Diener in enger Kooperation mit Ihnen ausgeführt. Doch lange bleibt Planung Theorie. Wie zufrieden sind Sie mit dem Resultat?
Nadia Guth Biasini: Es ist ein Museum mit besonders schönen Räumen entstanden. Der Umbau von einem Lagerhaus aus Holz, ohne Strom, Heizung, Wasser und Isolation, in ein Museum mit State-of-the-Art-Museumsklima wurde sehr gekonnt geplant und durchgeführt. Museen gehören nebst Spitälern zur anspruchsvollsten Kategorie von Bauten. Roger Diener und sein Büro haben für unser Museum eine wunderschöne Hülle geschaffen. Die Idee, auf der Fassade zeitgenössische Kunst anzubringen und diese mit dem Museum zu verbinden, kam ebenfalls von Roger Diener. Obwohl der Umbau bautechnisch sehr anspruchsvoll war, weshalb ausserordentlich viele Sitzungen notwendig waren, sind wir vom Resultat begeistert.
Naomi Lubrich: Ich war zuvor 17 Jahre am Jüdischen Museum Berlin, gebaut von Daniel Libeskind. Libeskind hat sein architektonisches Konzept in den Vordergrund gestellt. Das Haus wurde zur gebauten Skulptur. Wir mussten die Objekte nach dem Bau richten. Roger Diener hat genau das Gegenteil gemacht. Er hat sich überlegt, was ein Museum braucht. Er machte das Beste aus dem Haus, war detailorientiert und hat nie versucht, uns ein Konzept aufzudrücken.
Nach jahrelanger Vorarbeit kommt nun die Eröffnung. Welche Hoffnungen verbinden Sie insgesamt mit dem neuen Museum und Standort?
Nadia Guth Biasini: Wir hoffen, dass das Museum eine Platform für Interessierte wird, die sich bei uns über das Judentum informieren und ihre Fragen stellen können. Wir hoffen auch, dass eine Art Zentrum entsteht. Dies, obwohl seit dem 7. Oktober die Situation ja stark polarisiert und oftmals angespannt ist. Die Frage der Sicherheit ist seit einigen Jahren ein zentrales Thema, weshalb wir mehr Sicherheitspersonal und Koordination zur Sicherheit als früher benötigen. Wir müssen sehr aufmerksam sein.
Naomi Lubrich: Für die Jüdinnen und Juden sind wir ein Ort für ihre Erfahrungen und Identität. Nichtjuden können die Geschichte der Schweiz bei uns aus einer anderen Perspektive sehen.
Das JMS kann nun mehr Objekte aus seiner riesigen Sammlung zeigen. Auf welches Publikum fokussieren Sie damit?
Naomi Lubrich: Wir sind ein Museum für alle, das betone ich, weil es für Nichtjuden nicht selbstverständlich ist, in ein Jüdisches Museum zu gehen. Wir hoffen, die Leute anzuziehen, die nicht von Haus aus Wissen über das Judentum haben – beispielsweise Schüler.
Das JMS ist ausserhalb des Stadtzentrums. Steht es damit ein wenig symbolisch für das Abseitsstehen des Judentums?
Nadia Guth Biasini: Es ist eigentlich besser für ein jüdisches Museum, nicht grad im Stadtzentrum zu stehen. Unser Museum steht in der Basler Altstadt und ist einfach zu finden. Der Dreispitz, wo auch eine Variante in Erwägung gezogen werden konnte, kam nicht wirklich infrage. Die Lage des neuen Museums ist eigentlich ideal: es steht gleich neben der Universität, wo sich das Areal des ältesten jüdischen Friedhofs der heutigen Schweiz befindet. Vom schön gestalteten Vorplatz und von unseren Fenstern aus sieht man das Spalentor.
Naomi Lubrich: Einen besseren Standort hätten wir uns nicht wünschen können!