AUSSTELLUNG 21. Nov 2025

Schubladen voller Geschichten

Einblick in die neue Dauerausstellung mit Themeninseln und schubladisierten Miniaturen.

Die neue Dauerausstellung «Kult. Kultur. Kunst.» mit neuem Konzept und in neuen Räumen – ein Augenschein im Jüdischen Museum der Schweiz.

Die Eröffnung eines von Grund auf neu gestalteten Museumsbaus ist stets auch mit der Inszenierung einer die veränderten Möglichkeiten nutzenden Dauerausstellung verbunden. Dauerausstellungen sind der Markenkern und die Kernaufgabe sowie Auftrag und Aufgabe aller Museumseinrichtungen. Diesem Daseinszweck hatte sich auch das Jüdische Museum der Schweiz (JMS), das dieser Tage an neuem Ort eröffnet wird, zu stellen. Für die Kuratorinnen und den weiten Kreis der Szenografen, Beleuchtungsspezialisten, Mediengestaltenden, Dokumentalisten oder mit Recherchen befassten Mitarbeitenden war dies eine Aufgabe ohne jegliche Vorbestimmungen früherer Ausstellungsgestalter und gerade deshalb herausfordernd und reizvoll. Es galt, eine Ausstellungsfläche von 350 Quadratmetern von Grund auf neu zu möblieren und zu bestücken. Die von Diener & Diener Architekten entwickelte Lösung der Nutzung eines ehemaligen Tabaklagers an der Basler Vesalgasse zu einem hochwertig gefertigten Museumskorpus, der auch Werkstatt- und Veranstaltungsräume, eine Bibliothek und Büroräume bietet, erlaubte es dem JMS erstmalig vieles zu präsentieren, was am bisherigen, sehr gedrängten Ort qua Mangel an Möglichkeiten in die Depots verbannt werden musste. «Die Anzahl der Ausstellungsobjekte hat sich im Vergleich zu früher verdoppelt», sagt die Direktorin Naomi Lubrich bei einem ersten Rundgang durch die noch unfertige Ausstellung. Jetzt, so Lubrich, seien es etwa 500 Einzelstücke, die sich auf den beiden Etagen der zukünftigen Dauerausstellung zeigen liessen.

Museumsleute wissen, dass auch die sogenannten Dauerausstellungen nicht für zehn oder mehr Jahre in sich ruhen werden. Da ist etwa den sich wandelnden Nutzungsgewohnheiten und Interessen der Besuchenden Rechnung zu tragen. Auch bleibt längst nicht alles am ursprünglichen Ort, denn auf Zugänge und Abgänge von Objekten müssen Antworten gefunden werden. Auch Neues kommt hinzu. Und dennoch muss die Leitung beim Bezug eines neuen Hauses gemeinsam mit den Innenarchitekten und Szenografen, hier Samuel Strässle und Tanya Eberle, die Raum- und Präsentationskonzepte, dank derer die Ausstellungsdramaturgie erfahrbar werden soll, frühzeitig und langfristig definieren. Entschlossen hat man sich, so Lubrich, «zum Konstrukt eines Schaulagers, das den Besuchenden thematisch geordnete Angebote macht, die proaktiv genutzt werden können».

Aus der Schublade
Der Umsetzung dieses Konzepts ist nun das bestimmende Mobiliar der Dauerausstellung geschuldet; lange Reihen von tischhohen Planschränken, in deren Schubladen sich Arrangements von Dokumenten, Fotografien, Textilien und weiteren rituellen wie auch profanen Objekten unter Glas betrachten lassen. Mit dieser Entscheidung schafft sich das Museum die Möglichkeit, sehr viele seiner auch kleinteiligen Objekte erstmals an die Oberfläche zu transportieren. Den Besuchenden bleibt es überlassen, sich bei der Suche nach den jeweils interessierenden Themen oder Zeitepochen den Inhalt der jeweiligen Schublade zu betrachten. Das Konzept dieses zwischen Aufbewahrung und Ausstellung schwankenden Angebots entzieht den Besuchenden den Blickkontakt auf eine assoziativ geleitete Wahrnehmung der Exponate. Aufeinander verweisende Leitmotive, wie sie in Museumsräumen von Ausstellungsmacherinnen und Ausstellungsmachern als wichtige Navigation zu Erkundungen und Erfahrungen bewusst inszeniert werden, ordnen sich im Konzept des JMS dem Ensemble einer oftmals fragilen Struktur unter. Betrachtet man das neugestaltete Museum hingegen als einen Lern- und Lehrort, wie es der Titel der Dauerausstellung «Kult. Kultur. Kunst. Jüdische Erfahrungen» suggeriert, mag die Aufforderung dieser Präsentation auch darin liegen, sich die Vielfalt der Themenabteilungen «proaktiv» anzueignen.

Motiv Holz
Das Parterre des Museums ist den Sonderausstellungen mit temporärem Charakter vorbehalten. Zur Eröffnung ist dort «Frank Stella und die zerstörten Holzsynagogen» zu sehen, deren besonderer Bezug zum Museum in Stellas Relief «Jeziory» begründet ist, das seit einigen Wochen die Fassade des Museum ziert. Die Etagen zwei und drei beherbergen die Dauerausstellung. Im ersten Obergeschoss ist das der mit Kult überschriebene Bereich. Als Hinweis für die Inhalte dienen die weitgefassten Unterkapitel: Gemeinden, Glauben, Geschichten. In der Mitte des Längsraums findet Mobiliar des 1981 aufgelösten «kleinen Betsaals» der Gemeinde Solothurn Platz. Es sind dies einige Sitzbänke, die im Museum zur Erholung willkommen sein werden, sowie der kleine Solothurner Thoraschrein, in dem drei reich bestickte Basler Thoramäntel zu sehen sind. Prägend für den Raum ist das sogenannte Rosettenfenster aus der Synagoge Biel, das aufwändig restauriert nun auch als Synonym für die Vielfalt der Gemeinden des Landes gelten kann.

Kraft aus zehn Metern
Wohl das beeindruckendste Exponat der gesamten Dauerausstellung ist eine auf über zehn Meter Länge ausgerollte Schriftrolle. Diese universell spürbare Kraft der Schrift und des Glaubens stellt den immer wieder spürbaren Anspruch des JMS auf eine imaginäre Vollständigkeit und eine damit einhergehende Kleinteiligkeit der Objekte in den Schatten. Selbst wenn immer wieder hübsche Entdeckungen zu machen sind – wie zum Beispiel eine Iwrit-Ausgabe von «Heidi» aus dem Jahr 1946, deren Popularität darin lag, den vielen Waisenkindern, die nach der Schoah ins Land kamen, eine erbauliche Geschichte mit einem sympathischen Waisenkind nahezubringen –, wirkt das Nebeneinander vieler Themen und Aspekte des Judentums rasch überfordernd.

Man muss sich an der Vesalgasse seinen eigenen Weg durch die Jahrhunderte jüdischen Lebens und Glaubens, zu den Kultobjekten der Religiosität, der Emanzipation, den Zionistenkongressen, der «Boot ist voll-Doktrin», den wegweisenden Rabbinern und Rabbinerinnen und der verwirrenden Vielfalt jüdischen Lebens und Denkens an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts bahnen. Vieles liegt dort räumlich zwar nah beieinander, vieles in Schubladen übereinander, manches lädt zum Verweilen ein, weiteres wird leicht übersehen. Die im Aufbau befindliche digitale Bibliothek der Exponate, «Wir vermitteln und bewahren die jüdische Geschichte und Gegenwart», wird den Besuchenden den Einstieg, die Orientierung und den Kontext des Gezeigten in Zukunft hoffentlich erleichtern.

Das zweite Obergeschoss ist dem Ausstellungsbereich Kultur gewidmet. Auch dies ein sehr weit gefasstes Spektrum. Um die wesentlichen Themen zu beschreiben, sei die Inhaltsangabe der Kuration zitiert: «Kultur» hat in der Raummitte einen Zeitstrahl, «Recht und Unrecht» sowie die Kapitel «Fluss und Meer» (zur Herkunft des aschkenasischen und sephardisch-maghrebinischen Judentums), «Stadt und Staat» (zu Autonomie, Niederlassungsfreiheit und Zionismus), «Hass und Liebe» (zu Akzeptanz sowie Antisemitismus und Selbstliebe). Im Rahmen einer ersten Betrachtung der noch nicht abschliessend eingerichteten Räume ist es nicht angebracht, auf die Einzelheiten dieser Darstellungen einzugehen. Zudem wird ein Jüdisches Museum ausserhalb Israels in absehbarer Zeit auch auf die Fortschreibung der Wahrnehmungen von Judentum und jüdisch Sein im Diskurs der gegenwärtigen Entwicklungen eingehen müssen. Mit seiner Maxime, sich auch vermittelnd in die Gegenwart einzubringen, hat sich das JMS eine Befassung auferlegt, die innerhalb, aber auch ausserhalb der Dauerausstellung eingefordert werden kann.

Gabriel Heim