Interview mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Mirjam Wenzel – sie ist Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt und Vorstandsvorsitzende des Verbands der Europäischen Jüdischen Museen.
tachles: Jüdische Museen boomen in Europa – trotz mehr sichtbarem Antisemitismus und einem gesellschaftlichen Klima, in dem sich jüdisches Leben wieder stärker zurückzieht. Wie steht es also?
Mirjam Wenzel: Wir erleben seit einigen Jahren eine auffällige Dynamik: In Litauen wurde ein neues jüdisches Museum eröffnet, in Basel das Jüdische Museum der Schweiz an einem neuen Standort wiedereröffnet, in Madrid und Lissabon entstehen weitere Häuser. Gleichzeitig gibt es in Deutschland Diskussionen über neue Museumsprojekte – etwa in Dresden und Hamburg. Diese Entwicklung fällt in eine Zeit, in der jüdisches Leben unter Druck steht, die Verunsicherung unter Jüdinnen und Juden zunimmt und sich viele aus öffentlichen Räumen zurückziehen. Dass gerade jetzt Museen politisch unterstützt werden, ist bemerkenswert. Einerseits ist es ein Zeichen von Anerkennung; andererseits steckt darin eine paradoxe Botschaft: Man stärkt Institutionen, während reale Lebensräume fragiler werden. Museen können Sichtbarkeit erzeugen, aber sie ersetzen kein aktives, selbstbewusstes jüdisches Leben.
Warum ist diese Entwicklung ambivalent?
Weil sie eine Art Stellvertretung produziert. Wenn politische Unterstützung für Museen eine Antwort auf steigenden Antisemitismus ist, droht die Botschaft: «Wir kümmern uns um euch – indem wir Museen bauen.» Museen dürfen aber nicht zu einem Ersatz für die Auseinandersetzung mit den Sorgen und Wünschen von Jüdinnen und Juden werden und die Abwesenheit eines sichtbaren jüdischen Alltags kaschieren. Wenn jüdisches Leben im Stadtbild unsichtbarer wird, während jüdische Museen florieren, dann stärken eben diese Museen das öffentliche Interesse an abwesenden oder toten Jüdinnen und Juden, die nicht mehr widersprechen und sich Vereinnahmungen und Projektionen entgegenstellen, also unbequem sein können.
Das Jüdische Museum der Schweiz in Basel ist das älteste im deutschsprachigen Raum und wird nun neu eröffnet. Was unterscheidet die Gegenwart von der Zeit seiner Gründung?
Damals gab es in Europa nur sehr wenige jüdische Museen und dementsprechend auch noch recht wenig Wissen um jüdische materielle Kulturgüter. Heute ist die Landschaft dicht und vielfältig. Zudem haben sich neben der Judaistik auch die Jüdischen Studien etabliert, die sich eher der materiellen Kultur zuwenden. Doch die Rahmenbedingungen haben sich verschoben: Vor Jahrzehnten ging es darum, eine Kultur wieder sichtbar zu machen, die fehlte; heute geht es darum, etwas zu stärken, das erneut aus dem öffentlichen Raum zu verschwinden droht. Diese Veränderung stellt neue Aufgaben. Museen müssen heute viel stärker gesellschaftliche Entwicklungen reflektieren, einem Klima von Hass und Hetze entgegenwirken – und gleichzeitig vermitteln, dass jüdische Kultur mehr ist als eine Sammlung von Objekten, Kunstwerken und Dokumenten.
Wie wichtig ist dabei die Rolle der jüdischen Gemeinschaft selbst?
Extrem wichtig – aber je nach Ort auch unterschiedlich. In Südeuropa etwa sind viele Museen eng an Gemeinden angebunden und fungieren als materielle Archive, die sich primär an ein jüdisches Publikum richten. In Osteuropa hingegen existieren Museen oft dort, wo es kaum noch eine jüdische Gemeinschaft gibt; sie erinnern also an eine zerstörte Kultur. Viele dieser Museen werden von jüdischen Emigrantinnen und Emigranten getragen, die kulturelle Verbindungen zu dem Ort aufrechterhalten wollen, dem ihre Familien entstammen. Diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen führen zu unterschiedlichen Erwartungen und Funktionen der Museen selbst, und das zeigt sich auch in den Programmen. Trägerschaft und Geschichte eines Museums prägen seine Identität und zumeist auch sein Programm.
Sie sprechen von innerjüdischen Debatten. Welche Rolle spielen Museen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft?
Museen können Räume öffnen, in denen jüdische Vielfalt verhandelt wird. In Deutschland, wo Gemeinden aus historischen Gründen zögerlicher sind, bestimmte Konflikte offen zu führen, sind Museen oft Plattformen, auf denen etwa internationale jüdische Positionen sichtbar werden, die sonst wenig Resonanz finden. Jüdische Museen tragen also dazu bei, dass in der Öffentlichkeit unterschiedliche jüdische Geschichten und Perspektiven anerkannt werden und letztlich auch innerjüdische Diskurse stattfinden können. Pluralität ist kein Ornament – sie ist Teil jüdischer Geschichte. Museen können diese Pluralität vermitteln, zelebrieren und gleichzeitig schützen.
Gleichzeitig geraten Museen unter politischen Druck. Was bedeutet das?
Museen geniessen in der Öffentlichkeit eine grosse Autorität, weil sie wissensbasiert und sorgfältig arbeiten. Diese Glaubwürdigkeit gilt es zu schützen und zugleich zu nützen. Dazu gehört, politische Einflussnahme abzuwehren, ohne die gesellschaftliche Verantwortung zu ignorieren. Wir können und sollen aktuelle Debatten aufgreifen, aber nicht im Modus des Aktionismus. Differenzierung ist keine Schwäche – sie ist unsere Aufgabe. Wir müssen in der Lage sein, die Komplexität unserer Gegenwart zu reflektieren und der Polarisierung entgegen zu wirken, die die Diskurse um unsere Themen, um Flucht und Migration, Antisemitismus und Rassismus und den Kampf um Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe prägen.
Daraus ergibt sich auch eine Verantwortung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft.
Natürlich. Museen sind keine Binnenräume. Sie funktionieren nur, wenn sie als Orte wahrgenommen werden, die Orientierung ermöglichen. Wir arbeiten auf Basis von Forschung und nicht auf Grundlage von Emotion oder Meinung. Aber wir müssen reflektieren, wie gesellschaftliche Debatten jüdische Perspektiven prägen und welche Räume dadurch enger werden. Ein Jüdisches Museum, das die Realität seiner Gegenwart ignoriert, verfehlt seinen Auftrag.
Ein Schwerpunkt aktueller Debatten ist Identitätspolitik. Wie gehen Sie damit und mit dem Paradox um, dass jüdische Museen als solche sich teilweise auch in Abgrenzung zu «anderen» begeben?
Identitätspolitik fordert klare Zuordnungen – «wer gehört dazu, wer nicht». Jüdische Identität war aber immer plural. Sie kann religiös, genealogisch, kulturell, politisch, national oder diasporisch definiert werden. Diese Offenheit ist Bestandteil jüdischer Geschichte. Museen müssen darauf hinwirken, dass dieser Pluralismus verstanden wird und sichtbar bleibt, anstatt Jüdischsein mit Definitionen zu verengen. In Deutschland wird Zugehörigkeit oft nach halachischem Massstab diskutiert. Das greift zu kurz. Judentum war nie ausschliesslich Religion oder Abstammung. Museen können diese Mehrdimensionalität vermitteln – und damit Räume öffnen, die weit über jüdische Geschichte und Kultur hinausreichen. Denn die jüdische Kulturgeschichte umfasst Migration, Literatur, Alltagsgeschichten, politische Ereignisse, Popkultur – und die Auseinandersetzung mit Verlust und Zukunft.
Sollten jüdische Inhalte stärker in allgemeine Museen integriert werden?
Die Integration ist wichtig, aber sie ersetzt spezialisierte Institutionen nicht. Historische oder kulturhistorische Museen haben in der Regel nicht die erforderliche Expertise, um die jüdisch-nichtjüdische Verflechtungsgeschichte angemessen zu erzählen. Viele von ihnen verfügen über Sammlungen mit jüdischen Zeremonialobjekten, wissen aber nicht viel mit diesen anzufangen. In vielen Fällen wird jüdische Kultur in den Dauerausstellungen marginalisiert oder ohne Kontext präsentiert. Jüdische Museen schaffen Tiefe, Komplexität und historische Kontinuität. Sie stärken die Partikularität der jüdischen Kultur, ohne die universalen Aspekte ihrer Geschichte aus dem Blick zu verlieren.
Jüdische Museen arbeiten an neuralgischen Themen: Schoah, Israel, Migration. Ist in solch aufgeladenen Kontexten Freiheit überhaupt möglich?
Ja – weil sie notwendig ist. Unsere Themen sind politisch, aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, komplex zu denken. Ich gehöre zu den vielen Menschen, die Hannah Arendt als politische Theoretikerin sehr schätzt. Für Arendt war das Denken ein Akt der Freiheit. Wenn Polarisierung und moralische Zuschreibungen das Denken ersticken, verlieren wir aus dem Blick, was der Kern unserer Aufgabe ist: Museen müssen Räume schaffen, in denen Ambiguität erlaubt ist, in denen Menschen Fragen stellen können, ohne sofort in Fraktionen einsortiert zu werden. Wenn Museen nicht mehr Orte der Vorstellungskraft, also des freien Denkens sind, dann leben wir nicht mehr in einer demokratischen Gesellschaft.
Sollen Direktorinnen und Direktoren jüdischer Museen jüdisch sein?
Formell nein – das wäre in Deutschland nicht zulässig. Entscheidend sind wissenschaftliche Kompetenz, Managementfähigkeit und programmatische Vision. Gleichzeitig spielt Glaubwürdigkeit eine Rolle: Die Beziehung zu jüdischen Communities ist sensibel. Nichtjüdische Leitungen müssen sehr bewusst mit dieser Verantwortung umgehen. In manchen Ländern – etwa in Italien – leiten Rabbiner Museen; in Skandinavien dagegen arbeiten beinahe ausschliesslich nichtjüdische Fachleute in jüdischen Museen. Entscheidend ist also der regionale Kontext und die Trägerschaft. Ein Jüdisches Museum ist nicht ein Haus «von Juden für Juden», sondern eine Institution, die jüdische Geschichte und Gegenwart für alle erschliesst.
Was erhoffen Sie sich vom neu eröffneten Jüdischen Museum in Basel?
Basel ist ein Schlüsselort jüdischer Geschichte: Die Zionistischen Kongresse, Otto Frank, die Fluchtbewegungen aus Deutschland – all das hat hier Spuren hinterlassen. Das Museum hat die Chance, diese lokale Geschichte in ein europäisches und globales Netzwerk einzubetten und als Teil transnationaler Bewegungen sichtbar zu machen. Besonders bedeutend an dem Basler Museum ist seine aussergewöhnliche Sammlung von Zeremonialobjekten. Diese Objekte sind ästhetisch faszinierend, aber sie erschliessen sich nicht von selbst. Es braucht kluge Vermittlung, die die religiöse Dimension dieser Objekte für ein zumeist säkulares und nichtjüdisches Publikum erfahrbar macht. Wenn das Museum es schafft, dies zu tun und sein regionales Erbe, gegenwärtige Fragen und universelle Perspektiven miteinander zu verschränken, hat es mit seiner Neueröffnung an anderem Ort die einmalige Chance, ein wahrhaft europäisches Modellprojekt zu werden.