Wo das Eigene fremd und das Fremde vertraut wird – die Aufgabe jüdischer Museen geht weit über die Überlieferung kultureller und historischer Identität hinaus.
Peter Sloterdijk hat Museen einmal die «Schule des Befremdens» genannt. Wenn für Museen gilt, dass einem das Eigene fremd und das Fremde vertraut werden kann, dann gilt das im Besonderen für «jüdische Museen».
Was ist es denn, das jüdische Museen zu «jüdischen Museen» macht? Ist es die Identität ihrer Betreiber, der religiöse Charakter von Verbänden? Oder ist es die Mehrdeutigkeit ihres Gegenstandes: die widersprüchlichen, ja oft genug sich streitbar entgegenstehenden Antworten, die Jüdinnen und Juden auf die Frage geben, was jüdische Kultur, jüdische Geschichte, Tradition und Gesetz für sie persönlich bedeuten, und erst recht: die ganze Vieldeutigkeit aller Fragen, die die verschiedensten Menschen in unserer Gesellschaft mit «Jüdischem» verbinden, kulturell, religiös und politisch?
Der Umgang mit «dem Fremden»
Museen sind soziale Räume, in denen wir unsere Welt von verschiedenen Seiten aus betrachten können. Räume, in denen wir als Besucher und Besucherinnen selber an den Narrativen, den Ordnungen und Deutungen der Dinge arbeiten und sie in Frage stellen, indem wir uns allein oder im Dialog mit anderen durch diesen Raum bewegen. Museen können jedenfalls solche Orte sein, wenn sie sich selbst und ihre Besucher und Besucherinnen ernst nehmen. Und wie so oft könnte hier ein altes jüdisches Sprichwort gelten: Jüdische Museen sind wie andere Museen auch, nur ein bisschen mehr so. Und genau das sorgt manchmal für Streit.
Vor dreissig Jahren war die Diskussion um jüdische Museen so etwas wie ein Brennglas einer avancierten Diskussion über den Sinn und Zweck der Institution Museum überhaupt: Ein Brennglas der Diskussion darüber, wie Museen mit Zugehörigkeit und Fremdheit in unserer Gesellschaft umgehen, wie ein kultureller Kanon formuliert wird und wer den Zugang zu solcher Definitionsmacht verwaltet und wer aussen vor bleibt. Jüdische Museen nahmen stolz für sich in Anspruch, Brückenbauer zu sein. Und dies auch zwischen einem gesellschaftlichen Mainstream, der «jüdisches» Erbe nach der Schoah wieder «zurückholen» wollte – und den «neuen» Minderheiten, Menschen, die mit ihren eigenen Erfahrungen, kulturellen Prägungen, ihrer «Fremdheit» und ihrem Selbstbewusstsein noch lange nicht akzeptiert waren.
Zwischen Boykott, Cancel Culture und innerjüdischen Konflikten
Inzwischen sind manche jüdischen Museen verstummt oder in Belanglosigkeit geflüchtet, angesichts von Cancel Culture und Boykott für oder gegen Israel oder Palästina – und einem gesellschaftlichen Klima, in dem Minderheiten gegeneinander ausgespielt werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Verbrechen im nicht endenden Krieg um das Existenzrecht von Israeli und Palästinensern. Auch herrscht eine Polarisierung innerhalb jüdischer Gemeinden und zwischen jüdischen Gemeinden und jüdischen Menschen, die sich dort angesichts eines immer giftiger werdenden Diskursklimas – oder eben der Tatsache, dass ein Diskurs nicht mehr möglich ist – nicht mehr wiederfinden.
In meiner Heimatstadt Frankfurt sorgte ein jüdischer Philosoph aus den USA, den die Jüdische Gemeinde zur Gedenkveranstaltung am 9. November eingeladen hatte, für einen «Eklat» und musste seine Rede vorzeitig abbrechen, nur weil er es gewagt hatte, davon zu sprechen, wie die Auseinandersetzung um den Krieg in Gaza, die Besatzung und die Diskriminierung der Palästinenser seine eigene Familie und die Gemeinde polarisiert hat. Und sie doch alle Juden seien und für alle diese Haltungen Platz sein müsse, auch in jüdischen Gemeinden in Deutschland. Das war ganz offenbar eine Illusion. In einem solchen Klima sind jüdische Museen womöglich wichtiger denn je, wenn sie sich denn trauen.
Konstruktion einer neuen Identität
Jüdische Museen sind einstmals – vor der Schoah – aus dem Bruch mit der (religiösen) Tradition und ihrer Neuerfindung als «kulturelles Erbe» hervorgegangen. Schon die ersten Gründungen um 1900 verdankten sich der Auflösung religiöser und traditioneller Alltagspraxis, der Auflösung ökonomisch wie politisch unter Druck geratener Lebenswelten und der Migration – aus den Landgemeinden in die Städte, wie schliesslich der Massenemigration von Osten nach Westen. All diese von Individuen mal als Katastrophe, mal als Aufbruch wahrgenommenen Zäsuren verwandelten einen religiös geprägten Begriff von jüdischer Tradition in eine Frage von Identität und Kultur. Deren wichtigstes Medium, nämlich die Familie, bekam Konkurrenz in den Produkten der Massenkultur – und schliesslich auch im Museum. Die ersten jüdischen Museen entstanden, zumeist in der Trägerschaft jüdischer Gemeinden oder ihnen nahestehender Kulturvereine, 1895 in Wien, 1904 in New York, 1906 in Prag, 1909 in Budapest, 1912 in Worms, 1917 in Berlin, 1922 in Frankfurt am Main, 1927 in Breslau und 1932 in London. Gemeinsam war ihnen der Versuch, eine partikulare Tradition als universelle Kultur zu bewahren und zugleich in das kulturelle Erbe der verschiedenen Nationen einzuschreiben. Damit wurden aus den heimatlos gewordenen Objekten einer zerbrechenden traditionellen Lebenswelt Träger einer neu konstruierten kulturellen Überlieferung und einer besonderen historischen Identität. Und zugleich eine Bürgschaft im Prozess der Assimilation und Akkulturation, die ihre Besonderheit aufheben sollte.
Institutionen im öffentlichen Auftrag
Das Versprechen der Aufklärung, für das sie noch immer einstanden, wurde nicht eingelöst. Was blieb, nach der Schoah, war eine noch radikalere Heimatlosigkeit, als sie die Museumsobjekte schon in den Gründungen vor 1933 kennzeichnete. Nun war die Idee des «jüdischen Museums» selbst heimatlos geworden – und stand damit für die Diaspora schlechthin ein, in ihrer zerstörten Realität wie auch in ihrem utopischen Potenzial.
Und sie sind nun, nach der Schoah, zu Institutionen der Gesellschaft geworden. Sie sind nicht Schaufenster jüdischer Gemeinden, sondern Institutionen in öffentlichem Auftrag. Sie repräsentieren damit in einer divers gewordenen Gesellschaft, in der Christen, Muslime, Agnostiker, Juden und andere miteinander ausverhandeln müssen, was zum kulturellen Erbe gehört – und wie dieses Erbe in der Gegenwart genutzt wird –, tatsächlich alle miteinander konkurrierenden Deutungen dessen, was Menschen am Judentum interessiert.
Nicht jedem mag das gefallen. Identitätspolitik ist keineswegs eine Spezialität «woker» Subkulturen, sondern kulturelles Alltagsgeschäft der unterschiedlichsten politischen und sozialen Akteure. Mit dem Anspruch auf «Identität» werden Abgrenzungen und Ausgrenzungen legitimiert, werden gesellschaftliche Mauern und Zäune errichtet, mit denen man sich selbst ins Recht und die anderen ins Unrecht setzt.
Grenzgänger zwischen Minderheit und Mehrheitskultur
Das Potenial jüdischer Museen wäre gerade die Kritik daran. Wenn man sich denn noch traut, solche Grenzen zu überschreiten. Und bereit ist, Fragen zu stellen, auf die man die Antwort selbst noch gar nicht kennt, und mit offener Neugier solche Aspekte jüdischer Kultur und Geschichte, jüdischer Erfahrung und Tradition auszuloten, die sich den allgegenwärtigen Identitäts- und Abgrenzungsbedürfnissen entziehen. Statt immer nur zu schauen, wo der Antisemitismus lauert, eine Suche, die leicht in Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei umschlägt, die das reale Problem, dass wir alle damit haben, nur vergrössert.
Jüdische Museen liegen im Grunde immer auf der Grenze, auf beiden Seiten zugleich. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte und Gegenwart einer Minderheit, die zugleich eine Quelle der Mehrheitskulturen Europas darstellt, des Christentums wie des Islams. Sie loten die Widersprüche von Fremd- und Selbstwahrnehmung aus, einen unlösbaren Konflikt, denn nicht zuletzt das Christentum kann nicht existieren, ohne das Judentum zu umarmen, selbst wenn diese «Umarmung» für das Judentum zuweilen tödlich war. Christliche Theologie und christliche Praxis, sie bedeuteten doch über Jahrhunderte nicht zuletzt eines: die Überzeugung, das Judentum und seine Propheten besser verstanden zu haben als die Juden selbst. Und jüdisches Selbstbewusstsein, wie es sich in so vielen verschiedenen Formen seinen Weg gebahnt hat, ist daher immer auch ein Skandal und eine Herausforderung.
In diesem Spannungsfeld bewegen sich jüdische Museen, ob sie nun wollen oder nicht.
Sie repräsentieren und problematisieren das «Andere» im «Eigenen» und sie spiegeln das «Eigene» im «Anderen», ohne sich darauf festlegen zu lassen, um wessen «Eigenes» und «Anderes» es geht. Als jüdische Museen stellen wir – wenn wir unseren Auftrag ernst nehmen – Zugehörigkeit, Identität und Abgrenzung und damit auch die Erwartungen und mitgebrachten Vorstellungen gründlicher in Frage, als es manchmal unseren institutionellen Trägern, aber zuweilen auch unserem Publikum, recht ist.
Wir sollten genau darin unsere Stärke sehen, unsere innere Freiheit bewahren, unsere Besucher auf produktive Weise irritieren, sie mit Unbekanntem überraschen, aber nicht belehren, so viel wir auch selbst vielleicht wissen oder gerade entdeckt haben. Wir sollten offen für Streit und Dialog sein, kulturelle Hegemonie und ideologische Schablonen in Frage stellen. Wir sollten keine Angst vor Ironie und Zweideutigkeit haben, sondern Neugier kultivieren, die unserer Besucher, aber auch unsere eigene. Dann gelingt es vielleicht, Menschen in eine Art intellektuelles Schwindelgefühl zu versetzen, in dem es möglich ist, neue Fragen zu stellen, die uns vielleicht aus den Sackgassen der Gegenwart hinausführen.