Sidra Bamidbar 30. Mai 2025

Zwischen Kollektiv und Individualität

Es gibt kaum einen jüdischen Menschen, der diese Erfahrung nicht kennt: Man trifft an einem ganz fremden Ort in der Synagoge oder sonst wo mit wildfremden jüdischen Leuten zusammen, kommt irgendwann ins Gespräch, und spätestens nach drei bis vier Sätzen hat man herausgefunden, dass man gemeinsame Bekannte oder sogar Verwandte hat. Das hat natürlich etwas Anheimelndes – man hat das Gefühl, dass man fast überall auf der Welt irgendeine Form von Anschluss und Geborgenheit findet. Und selbst wenn dieses jüdische Lieblingsspiel der Suche nach den gemeinsamen Bekannten für einmal ergebnislos verlaufen sollte – irgendwie ist man schon fast «zu Hause», wenn man andere jüdische Menschen trifft.

Aber ist es nicht auch manchmal sehr schwierig, immer «member of the club» zu sein? Gerade in politisch besonders bewegten Zeiten wie diesen nervt es nicht nur, von aussen angefeindet zu werden, sondern es kann auch quälend sein zu erkennen, wie jüdische Menschen im Namen jener Identität, die sie mit uns verbinden sollte, Dinge äussern, die wir als vollkommen unangemessen, vielleicht sogar abstossend empfinden.

Mit solchen Fragen, dem komplexen Verhältnis zwischen Zugehörigkeit zu einer grossen Gruppe einerseits und familiärer, aber auch individueller Prägung andererseits, haben sich Gelehrte schon vor langer Zeit auseinandergesetzt, und zu diesem Zweck möchte ich für einmal ein längeres Zitat von Rabbiner Samson Raphael Hirsch anführen, das altertümelnd klingen mag, sich aber im Kern auf ein daueraktuelles Problem bezieht.

Hirsch kommentiert den zweiten Vers unserer Sidra, den er folgendermassen übersetzt: «Nehmet die Gesamtsumme der ganzen Gemeinde der Söhne Israels auf nach ihren Familien, nach dem Hause ihrer Väter, mit Zählung der Namen, alle Männlichen nach ihren Köpfen.» Dazu schreibt er im Kommentar: «Durch die Auffassung der Nation als ‹Haus Israels› und aller Nationalen als ‹Söhne Israels› ist der Begriff der jüdischen ‹Nation› davor geschützt, als gegenstandslose Einheitsidee sich zu verflüchtigen oder in die Scheineinheit einer Elitenrepräsentanz als Fiktion sich zu retten, wird er vielmehr wesentlich immer und immer in der vereinten wirklichen Allheit seiner Glieder gedacht, die durch ein gemeinsames Innere eins sind, und deren jedes ein konkretes Teil dieser Einheit darstellt. Auch als die Nachkommen des einen jüdischen Mannes Israel zu sechsmal hunderttausend Männern angewachsen waren, waren sie alle noch Glieder ‹Eines Hauses›, Söhne ‹Eines Mannes›, Ein Gepräge in Geist und Herz, Eine Aufgabe, Ein Geschick als Erbschaft durch die Jahrtausende tragend. Und mitten in dieser Grundeinheit und unter deren Einfluss die grösste Mannigfaltigkeit in Stammes- und Familieneigentümlichkeit geflissentlich gepflegt, auf dass (…) die Eine grosse Menschenbestimmung, wie sie das Gottesgesetz gezeichnet, unbeirrt durch jede Besonderheit, in der ganzen Mannigfaltigkeit der Charaktere, Anlagen, Berufsarten und Lebensstellungen, für die Gesamtmenschheit mustergültig zur Verwirklichung komme.»

Sehen wir einmal von der konsequent maskulin gedachten Perspektive ab, so zeichnet Hirsch, der selbst auch in einer Phase fundamentaler Spaltungen des Judentums im 19. Jahrhundert lebte, gerade bei jener Textstelle, die – anhand der Erstellung eines Zensus – die konsequenteste Kollektivierung der Israeliten beschreibt, einen Ausdruck der Dialektik, in dem das Individuum notgedrungen immer zwischen Zugehörigkeit zwischen verschiedenen Einheiten einerseits und seiner Persönlichkeit andererseits existiert. Doch das eine widerspricht dem anderen nicht. Jüdisch zu sein widersetzt sich allen totalitären Unterwerfungen unter eine Einheitsidee. Das grosse Gemeinsame in der Realität auch kleinerer gesellschaftlichen Einheiten, ja der einzelnen Personen aufgehoben zu wissen, ist Teil der «Menschenbestimmung» des Judentums.

Tausendfach haben wir in den vergangenen Monaten den Ruf nach «achdut», nach «Einheit» gehört, und nicht selten hat mich dabei das Gefühl beschlichen, diejenigen, die es äussern, wollten vor allem sicherstellen, dass man ihnen nicht widerspricht. Aber Hirschs Botschaft verstehe ich anders – als Aufruf, die jüdische Streitkultur, diese «Mannigfaltigkeit» als das grosse Gemeinsame zu verstehen, mit dem Ziel allerdings, auch aus diesem Streit etwas hervorgehen zu lassen, was, wie er sich ausdrückt, «für die Gesamtmenschheit mustergültig zur Verwirklichung komme».

Alfred Bodenheimer