Durch das 4. B. M. geht ein zeitlicher Bruch von 38 Jahren. In der Sidra Schlach Lecha wird den Israeliten, die dem Defätismus der Kundschafter anheimfielen und nicht an die Möglichkeit des Eintritts ins Gelobte Land glaubten, die Strafe auferlegt, dass die Wüstenwanderung insgesamt 40 Jahre dauern und alle bei der Episode der Kundschafter über 20-Jährigen bis dahin sterben würden. In der Sidra Chukat wird dann, unter anderem im Kontext mit der Erzählung von Arons Tod, deutlich, dass man sich nun gegen Ende dieser 40 Jahre befindet. Zwischen den beiden Sidrot Schlach Lecha und Chukat befindet sich die Sidra Korach, und es ist darauf hingewiesen worden, dass es nicht eindeutig ist, ob die dort geschilderten Ereignisse eher in die Phase unmittelbar nach den Kundschaftern gehören oder schon ins Vorfeld des Eintritts ins Land.
Der Midrasch Tanchuma verbindet die Korach-Episode unmittelbar mit den Ereignissen von Schlach Lecha. Da Schlach Lecha mit dem Abschnitt über die «zizit» («Schaufäden») endet, der ja auch ins Schma-Gebet aufgenommen wurde, fügt der Midrasch als Beginn der Revolte Korachs gegen Mosche eine Geschichte ein, in der Korach Mosche zu provozieren sucht, indem er ihn fragt, ob ein viereckiges Gewand («tallit»), das ganz himmelblau sei, wie es einer der Schaufäden an jeder Ecke sein soll, dennoch «zizit» brauche. Als Mosche dies bejaht, versucht er, die Widersinnigkeit der Lehre Mosches zu zeigen, dem ein himmelblauer Faden pro Ecke genüge, aber ein ganz himmelblaues Gewand nicht.
Ich schliesse mich der impliziten Einschätzung des Midrasch an, was die zeitliche Einordnung der Geschichte von Korach betrifft. Dieses Ereignis, das eine offene Revolte gegen den Führungsanspruch Mosches darstellt, ist ganz offensichtlich das Symptom einer Krisenzeit, wie sie nach dem Desaster der Kundschafter und der darauffolgenden katastrophal gescheiterten Aktion einer Gruppe von unautorisiert Losstürmenden, die das Land in völliger Verkennung der Situation erobern wollten und von Feindvölkern geschlagen wurden, im Lager Israels geherrscht haben musste.
Dass es Mosche selbst war, der in einem heftigen Dialog mit Gott verhindert hatte, dass Gott das ganze Volk auslöschte und aus ihm ein neues Volk gründete, dürfte ausser Mosche selbst niemandem bekannt gewesen sein. Aus Sicht des Volkes sass man jetzt in der Wüste endgültig fest, sogar noch mit der Ansage, dass alle nicht mehr ganz Jungen das Land überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen würden. Wer skeptisch gesinnt war, konnte leicht zum Schluss kommen, dass das Ganze eine grosse Schimäre war und dass die Energie oder der Plan dieses Gottes, mit dem man da plötzlich konfrontiert war und den Mosche zu vertreten schien, vielleicht dazu reichte, das Rote Meer zu spalten, am Sinai ein Gesetz zu geben und einen in der Wüste mit Manna und Wasser zu versorgen. Aber dass die ganze Sache mit dem Land eine Nummer zu gross gedacht war und dass vielleicht tatsächlich jemand Neues an die Spitze musste, um neue Horizonte zu eröffnen. Es dürfte unter diesen Leuten gewesen sein, dass Korach seine Anhängerschaft anzog, wie es schon oft charismatische Leute mit hohen Ansprüchen geschafft haben, grosse Gruppen von Menschen hinter sich zu versammeln. Hört man die Vorwürfe von Korachs Mitstreitern Datan und Aviram, kommt genau diese Argumentation zur Sprache (16,14).
So wie Mosche Gott gegenüber gekämpft hat, dass er das Volk am Leben lassen solle, so bedarf er nun der Unterstützung Gottes, um Korach und seine Anhänger in die Schranken zu weisen. Denn Korach, und das ist vielleicht sein grösstes Problem, hat keine Lösungen, er ist nach heutigen Massstäben ein Populist. Würde er das Volk übernehmen, wäre die Idee dessen, was Sinn des Auszugs aus Ägypten und der Offenbarung am Sinai war, endgültig gestorben. Deshalb haben die Gelehrten im Midrasch, um seinen Charakter zu skizzieren, vielleicht auch eine Provokation erwähnt, in welcher er eine Mizwa ad absurdum führen und damit zugleich Mosche desavouieren wollte. Korach kämpft gegen «das System», und die Krise ist Anlass und Antrieb seines Handelns. Ihn in die Schranken gewiesen zu haben, scheint die Bedingung dafür zu sein, dass das Volk bereit und imstande war, die folgenden 38 Jahre, jenen Zeitraum, über den wir (ausser den Lagerstätten des Volks) nichts erfahren, in der Wüste zu überstehen.
Sidra Korach
27. Jun 2025
Symptome einer Krisenzeit
Alfred Bodenheimer