Die Freude über die Freilassung der israelischen Geiseln ist riesig. Auch das Timing ist unfassbar. Auf den Tag genau zwei Jahre nach deren brutaler Entführung am Simchat Thora 2023 kehrten die israelischen Geiseln heim, ganz im Geiste des Bibelverses: «Du hast mir meine Klage in einen Freudentanz verwandelt» (Psalm 30:12). Bis vor wenigen Wochen hätte es niemand für möglich gehalten, dass alle lebenden Geiseln am ersten Tag einer Vereinbarung freikommen würden. Weshalb ist die Hamas mit ihren Forderungen schliesslich eingeknickt? Gemäss dem wichtigsten politischen Kommentator des israelischen TV-Senders «N12», Amit Segal, gibt es für diese verblüffende Kehrtwende bei den palästinensischen Terroristen zwei Hauptgründe: Erstens den resoluten Entschluss der israelischen Armee, die letzte Bastion der Hamas, nämlich Gaza-City, einzunehmen, und zweitens die militärische Attacke auf deren Anführer in Katar. Obwohl Letztere de facto misslungen ist, haben die Hamas-Terroristen verstanden, dass sie nirgends sicher sind und dass Israel es mit ihrer Bezwingung ernst meint. Der kompromisslose militärische Druck auf die Hamas hat Früchte getragen. Insofern haben die mutigen Soldaten der IDF direkt und indirekt die Freilassung ihrer Brüder ermöglicht. Dieses Ziel wiederum war in der Tat die Hauptmotivationsspritze für die israelischen Soldaten und bestärkte sie in ihrer Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen und schlimmstenfalls ihr Leben oder ihre Gesundheit zu opfern, was leider in viel zu vielen Fällen eingetreten ist. In diesem Krieg kam die talmudisch-ethische Richtlinie «ganz Israel ist füreinander verantwortlich» (Sanhedrin 27b) auf wundervolle Weise zur Geltung.
Dass zudem die Unterzeichnung dieses Deals zur Freilassung der israelischen Geiseln am Sukkotfest abgesegnet wurde, hat eine besondere biblische Symbolik, steht doch im Buch Nechemia: «Und die ganze Gemeinde derer, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, machte Laubhütten und wohnte darin. Denn die Kinder Israel hatten seit der Zeit Jehoschuas, des Sohnes Nuns, bis auf diesen Tag nicht so getan; und sie hatten sehr grosse Freude» (8:17). Ich muss dabei an den Vater der Geisel Guy Gilboa-Dalal denken, der seine Laubhütte, die er jedes Jahr mit seinem Sohn nach dem Fest abzubauen pflegte, zwei Jahre lang, seit dem Hamas-Massaker, unangetastet in seinem Garten hat stehen lassen und sie nun endlich mit seinem Sohn abbauen kann. Gemeinsam, wie früher.
Der berühmteste Gefängnisinsasse der Thora war bekanntlich Josef in Ägypten, ehe er von Pharao «entdeckt» und zum Vizekönig erkoren wurde (1. B. M. 39:20–41:14). Gemäss dem Midrasch war Josef zwölf Jahre lang eingekerkert (Tanchuma Wajeschev 9). Zehn Jahre entsprechend der üblen Nachrede gegenüber seinen zehn Brüdern und weitere zwei Jahre, weil er den Mundschenk bat, sich seiner zu erinnern (40:14), anstatt auf Gott zu vertrauen (Schmot Rabba 7:1). Die Thora geizt jedoch mit ihren Schilderungen des Kerkers selbst, in welchem sich Josef befand. Anders ist dies bei der Grube der Fall, in welche ihn seine Brüder zuvor hineingeworfen hatten. Zum Vers «die Grube war leer, es war kein Wasser darin» (37:24) bemerkt Raschi: «Weiss ich denn nicht aus der Bedeutung der Worte ‹die Grube war leer›, dass kein Wasser darin war? Was ist also der Sinn der Worte ‹es war kein Wasser darin›? Vielmehr war Wasser nicht darin, aber Schlangen und Skorpione waren darin!» So erzählten inzwischen heimgekehrte israelische Geiseln, wie sie sich in den Tunneln von Gaza nicht nur mit katastrophalen sanitären Bedingungen, sondern auch mit Spinnen auseinandersetzen mussten.
Der Psalm 107 verleiht ein starkes Bild der finsteren Realität, welche die Freigelassenen aus Gaza mit Gottes Gnaden hinter sich gelassen haben: «Danket dem Ewigen, denn er ist gütig, denn seine Gnade währt ewig! So sollen sagen die Erlösten des Ewigen, die er aus der Hand des Feindes befreit und die er aus den Ländern zusammengebracht hat. (...) Sie waren hungrig und durstig, dass ihre Seele in ihnen verschmachtete. Da schrien sie zum Ewigen in ihrer Not, und er rettete sie aus ihren Ängsten und führte sie auf den rechten Weg, dass sie zu einer bewohnten Stadt gelangten. Sie sollen dem Ewigen danken für seine Gnade und für seine Wunder an den Menschenkindern, dass er die durstige Seele getränkt und die hungernde Seele mit Gutem gesättigt hat! Die in Finsternis und Todesschatten sassen, gebunden in Elend und Eisen, (...) da sie dalagen und ihnen niemand half. Da schrieen sie zum Ewigen in ihrer Not, und er rettete sie aus ihren Ängsten,und führte sie aus Finsternis und Todesschatten heraus und zerriss ihre Bande. (...) Er zerbrach eherne Türen und zerschlug eiserne Riegel! (...) Er sandte sein Wort und machte sie gesund und liess sie ihren Gräbern entrinnen!» (Psalm 107, 1–20). In diesem eindrücklichen Psalm fusst die talmudische Weisung, dass ein jüdischer Mensch, der aus dem Gefängnis, geschweige denn aus einer Geiselhaft, befreit wurde, den besonderen Segensspruch «birkat hagomel» sprechen solle, in welchem Gott für das Entkommen aus einer Gefahr gedankt wird (Berachot 54b).
Ob die Hamas der zweiten Etappe des Abkommens, nämlich der Abgabe ihrer Waffen und der Aufgabe ihrer Herrschaft im Gazastreifen, vollkommen nachkommt, wird sich zeigen. Die Karten stehen dafür nicht schlecht, zumal die IDF 53 Prozent des Territoriums in Gaza nach wie vor kontrolliert und somit ein Druckmittel auf die Hamas besitzt, ohne die Geiseln zu gefährden. Die Freilassung der israelischen Geiseln ist jedoch Grund genug, den Psalm 107 und alle Loblieder der Welt inbrünstig anzustimmen. Und gleichzeitig allen israelischen Soldaten, den gefallenen und lebenden, für ihren aufopfernden Einsatz zu danken, welcher die Heimkehr ihrer Brüder ermöglichte.
Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.
Talmud heute
17. Okt 2025
Simchat Thora 2023–2025
Emanuel Cohn