Sidra Balak 11. Jul 2025

Ehrfurcht vor der Einigkeit

Gleich nach dem Sieg über Sichon, König von Edom, und Og, König von Baschan, lässt sich das jüdische Volk an der Grenze Moabs nieder und jagt so König Balak und dem moabitischen Volk Angst ein.

Im Altertum war es üblich, den Feind vor einem Kampf durch Fluchrituale im Namen der Götter zu verdammen. Es erstaunt nicht, dass auch Balak zu diesem bekannten Mittel greift, um so das Schicksal in der von ihm vorhergesehenen Schlacht für sich zu beeinflussen. Es erstaunt aber, dass im ersten Vers unseres Wochenabschnittes geschrieben steht: «Als Balak, Sohn des Zippor, all das sah, was Israel den Emoritern getan, da fürchtete sich Moab sehr vor dem Volk.» [Num 22,2] Im Wochenabschnitt Chukat lasen wir, dass Israel zwei Völker besiegte, Emor und Baschan. Wieso ist hier nur eine Eroberung erwähnt, oder, mit anderen Worten, wieso liess sich Balak vom Sieg Israels gegen Emor mehr beeindrucken als vom Sieg gegen Baschan? Die Weisen fanden hierfür eine tiefsinnige Erklärung, indem sie den Wortlaut der Texte über die Niederlage von Emor und Baschan einer genauen Analyse unterzogen.

Ein anerkanntes exegetisches Prinzip besagt, dass immer dann, wenn das jüdische Volk in der Thora als «Israel» bezeichnet wird, dieses eine unzerstrittene Einheit war. Beim Krieg gegen Baschan steht nun: «Und sie schlugen Og, König von Baschan, und seine Söhne und sein Volk, sodass man ihm keinen der Entronnnen liess, und nahmen sein Land in Besitz.» [Num 21,35] Das jüdische Volk ist hier in Mehrzahl genannt. Demgegenüber schreibt die Thora bei der Beschreibung des Krieges gegen Emor: «Und Israel schlug Sichon, König von Edom, mit der Schärfe des Schwertes, und nahm sein Land in Besitz.» [Num 21,24] Nun wird das jüdische Volk in Einzahl erwähnt. Die Weisen schliessen daraus, dass Balaks Angst nicht so sehr von den sicherlich eindrücklichen Siegen Israels herrührte. Dann hätte er tatsächlich beide Schlachten erwähnen müssen. Balak war vielmehr von der Einheit des jüdischen Volkes beeindruckt, davon, dass es «ein Herz und eine Seele» war. Tatsächlich steht in der Fortsetzung des Textes geschrieben: «Da fürchtete sich Moab sehr vor dem Volk, weil es viel (Einzahl) war» [Num 22,3], nicht etwa, weil es viele (etwa Soldaten) waren.

Bileam ist fasziniert von Israel, welches sich ihm als geeintes Volk präsentiert. Er kann es nicht fluchen, sondern segnet es angesichts der Stämme, die sich zwar durch ihre Feldzeichen und Embleme unterscheiden, die aber doch ein Volk bilden, welches sich rings um das gemeinsame Heiligtum gruppiert. Seine Worte bezeugen, was ihn am Volk am meisten beeindurckt. «Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnstätten, Israel!» [Num 24,5] Nun verstehen wir auch die Taktik von Bileam, der wusste, dass Israel unter solchen Umständen auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen ist. Er empfiehlt Moab, das jüdische Volk durch Prostitution und Götzendienst zu schwächen und zu spalten.

Das, was Balak, Bileam, Moab und vielen Völkern mehr Ehrfurcht vor Israel vermittelt, ist nicht dessen militärische Stärke, sondern sein Auftreten als geeintes Volk.

Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.

Rabbiner Michael Goldberger