«Lasst uns das Leben geniessen, solange wir es nicht begreifen.»
Kurt Tucholski
Und wenn wir durch einen Wald laufen, an einem Fluss entlang, früh am Morgen und es riecht nach Sommer, und es ist feucht von der Nacht, das Moos, oder vielleicht stehen Palmen da, und wir sind nicht allein. Eventuell sitzen wir in der warmen Nacht mit uns, oder mit einem, den wir lieben, und der uns liebt und wir sehen in den Himmel, den Fledermäusen nach. Und schwimmen in einem Fluss, einem See einem Meer. Wir reden mit irgendjemandem, der uns überrascht mit seiner Freundlichkeit.
Wir haben keinen Streit mit niemandem und die Wohnung steht noch, die Gliedmassen funktionieren, das Herz schlägt und die Tram macht Tramgeräusche und wir haben eine Familie, einen Mann, eine Frau, oder die Eltern, oder Kinder, oder die engen Freunde, die immer noch da sind. Und wir fühlen uns als Teil der Menschheit an manchen Tagen, in dem Viertel, in dem wir immer noch wohnen. Und durch die Stadt, das Dorf zu laufen, ist wie im Pyjama am Küchentisch zu sitzen, so nah ist uns alles, so weh tut jede Veränderung, als ob jemand in unserer Wohnung die Möbel umstellen wollte. Und das Leben scheint ewig, und alles wird sich wiederholen, als stünde da ein immer nachwachsendes Glück für uns bereit, das all diese Gerüche, die Sonne die Liebe für uns bereithält.
Diese kurze Zeit des Lebens, deren Ende wir erst ahnen, wenn wir im statistischen letzten Drittel unseres Hierseins ankommen, ist voller Ewigkeiten, die wir in Sorgen verbracht haben. Der Angst, nicht zu genügen, der Sorge um die Geliebten, der Angst vor einem Krieg, die Traurigkeit woher auch immer, wenn der Herbst kommt. Wir haben Angst ums Klima, vor korrupten Politikerinnen, vor den Steuern, der Polizei, dem Verlust von Dingen. Wir sind wütend auf Nachbarn, Staatspräsidenten ferner Länder, auf das Wetter, die Müllabfuhr. Wir hassen Insekten, bestimmte Arten von Nahrung, Staus, Verspätungen. So aufgebracht sind wir, wenn sich Pläne ändern, der Chef dumm ist, wir nicht Chef werden, die sogenannte Karriere stockt, der Lebenslauf eine Lücke hat, der Zaun kaputt, die Toilette verstopft ist. Wir ärgern uns, dass wir uns ärgern, dass wir so viel Zeit verschwenden, in der wir zufrieden sein könnten, so viel Trauer wegen Dingen, an die wir uns nicht einmal erinnern können, so viel Wut auf die Welt, der wir egal sind.
Zu begreifen, dass unsere Zeit endlich ist, dass wir nicht viel erreichen können mit unserer Empörung über Krieg und Elend in fernen Ländern, dass wir nicht einmal in der Lage sind, unser Leben zu planen, zu kontrollieren und zu beherrschen, ist eine Lektion in Demut. Und wenn man es akzeptiert, dass man nicht einmalig ist, eine von Milliarden, nur kurz hier anwesend, kein Recht auf Annehmlichkeiten und Glück, dann kann er noch angenehm werden, der wunderbare Rest.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.
die literarische Kolumne
11. Jul 2025
Der wunderbare Rest
Sibylle Berg