Als meine Kinder noch klein waren und wir die wunderschöne Arava-Strasse dem Toten Meer entlang fuhren, zeigte ich ihnen stets die berüchtigte Felssäule, die im Volksmund «Eschet Lot» («Lots Frau») genannt wird. «Seht ihr, Kinder», sagte ich in gebanntem und spannungsförderndem Ton, «das ist die Salzstatue von Lots Frau. Sie hat sich nicht an Gottes Weisung, nicht zum brennenden Sodom zurückzuschauen, gehalten, sondern sich aus purer Neugier umgedreht.» «Und dann, Papi?», wurde ich ungeduldig gefragt. Diesen Moment genoss ich besonders: «Dann wurde sie bestraft und verwandelte sich in eine Salzsäule für alle Ewigkeiten! Da oben könnt ihr sie sehen!» Ich liebte es, im Rückspiegel die teils beängstigten, teils bemitleidenden Blicke meiner Kinder hinauf zum Felsen zu beobachten. Um die Dramatik und ihr Mitgefühl zu steigern, fügte ich in leiser, aber hörbarer Stimme noch die Worte «arme Frau Lot» hinzu. Ich liebte diese Autofahrten an Frau Lots Felsen vorbei.
Die Frau Lots ist ein Begriff. «Drehn Sie sich um, Frau Lot!» hiess das erste Buch des legendären Satirikers Ephraim Kishon in deutscher Sprache, welches 1961 erschien und ein Riesenerfolg wurde. Ein solcher Buchtitel kann natürlich nur funktionieren, wenn die Geschichte der Gattin Lots in der Bevölkerung tief verankert ist. Und tatsächlich war diese tragische biblische Figur im deutschen Raum rundum bekannt. Es scheint, dass Lots Frau in der Volkswahrnehmung die Rolle der kleingläubigen, neugierigen, vielleicht sogar auch sich an den Strafen anderer labenden «Klafte» einnimmt. Aber fragen wir uns: Tun wir ihr mit diesem Image nicht ein bisschen Unrecht? Ist es denn nichts anderes als menschlich, sich in einer solch extremen Fluchtsituation – vielleicht sogar intuitiv – umzudrehen, wenn hinter dem Rücken «Schwefel und Feuer» (1. B. M. 19:24) auf die Heimatstadt herabregnen? Auch für Raschi scheint der Akt des Zurückblickens nicht Grund genug für die Strafe gewesen zu sein: «Durch Salz hatte sie gesündigt, durch Salz wurde sie bestraft. Lot hatte zu ihr (beim Besuch der Engel) gesagt: ‹Gib diesen Fremden etwas Salz›, da hatte sie geantwortet: ‹Auch diesen schlechten Brauch willst du an diesem Orte einführen?›» Die Frau Lots hatte sich also bereits zuvor durch ihr schlechtes Verhalten bei der Bewirtung der auswärtigen Gäste schuldig gemacht. Die Tatsache, dass sie nun auf das vernichtete Sodom zurückblickte und damit der Forderung ihrer Retter zuwiderlief, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Einen völlig anderen Ansatz zu diesem Bibelvers lehrt uns jedoch Rabbi Chiskiah ben Manoach, kurz Chiskuni, ein französischer Bibelkommentator aus dem 13. Jahrhundert. Er interpretiert das zweite Satzglied «und sie wurde eine Salzsäule» (19:26) nicht in Bezug auf die Frau Lots, sondern auf das Land! «Es, das heisst das Land um Sodom und Gomorra, wurde eine Salzsäule, heisst es doch: ‹wie er dieses ganze Land mit Schwefel und Salz verbrannt hat›» (5. B. M. 29:22). Diese verblüffende Leseweise mischt alle Karten neu auf. Lots Frau wurde also gar nie zu einer Salzsäule! «Haaretz», das Land, welches drei Verse zuvor im Bibeltext erwähnt wird, dieses und nur dieses wurde zu einer riesigen Salzsäule, oder wenn man will: zu einem grossen Salzmeer. Diese Sichtweise verändert unsere Perzeption von Lots Frau grundlegend. Plötzlich wird diese negative Figur zu einer gutmütigen Frau, die sich um das Schicksal der Menschen in Sodoms echte Sorgen macht! Die Tatsache, dass es im Vers heisst, sie habe «hinter ihm zurückgeschaut», also hinter Lot und nicht hinter ihren eigenen Rücken, bekräftigt die Möglichkeit, dass es ihr beim Akt des Zurückblickens nicht um ihr persönliches Wohlergehen ging, sondern um jenes ihres Mannes, ihrer Familie und vielleicht auch ihrer ehemaligen Nachbarn und Mitbürger. So verwandelt sich dank der Lesart Chiskunis die schaulustige und sensationslüsterne Frau Lots vor unseren Augen zu einer gutherzigen Ehefrau, Mutter und Nachbarin.
Hier stellt sich natürlich die Frage, was aus ihr geworden ist, verschwindet sie doch nach dieser Episode völlig von der Bildfläche, was dann auch indirekt ein Mitgrund für die Inzestschwängerungen der Töchter Lots durch ihren Vater war. Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Vielleicht konnte sie sich vom Anblick der zerstörten Städte nie ganz erholen und verfiel in eine tiefe Depression? Vielleicht machte sie sich sogar auf den Weg zurück, in der Hoffnung, unter dem Schutt noch Überlebende der Katastrophe zu finden? Die israelische Psychologie- und Traumaforscherin Rivka Tuval-Maschiach erkennt in der Handlung der Frau Lots einen möglichen Weg, sich mit einem Trauma auseinanderzusetzen: Sie erstarrte, das Trauma lähmte sie vollkommen! Sie konnte nach dieser Zerstörung nicht mehr weitermachen, ihr Leben endete an demselben Tag. Das Schicksal der Frau Lots teilen unzählige Schoah-Überlebende, die nach der Befreiung 1945 nicht mehr die Kraft besassen, vorwärts zu schauen, geschweige denn vorwärts zu schreiten. Dasselbe gilt für jene Überlebende des Nova-Musikfestivals, die das Trauma des 7. Oktober 2023 bis zum heutigen Tag paralysiert. Insofern ist die Salzsäule der Frau Lots ein Denkmal für all jene guten Menschen, die sich seit dem Rückblick auf ein Trauma nicht von diesem lösen können und deren Leben tragischerweise für immer erstarrte. Die Salzsäule ist auch ein Warnsignal für uns, allen traumatisierten Menschen, wie die Frau Lots es war, mit Empathie zu begegnen.
Sidra Wajera
07. Nov 2025
Die Traumatisierte
Emanuel Cohn