Talmud heute 14. Nov 2025

Das gebrochene Herzi

Im Laufe des Gaza-Krieges musste ich oft an Herzl Halevi, im Allgemeinen bekannt als Herzi, denken. Herzi war der israelische Generalstabschef während der Hamas-Attacke am 7. Oktober 2023. Seit seinem Rücktritt im März 2025 und der Ablegung seiner Uniform hat er unzählige Familien, deren Angehörige im Krieg gefallen sind, persönlich besucht. Auch ist er bei Begräbnissen von militärischen und zivilen Kriegsopfern, stets unauffällig inmitten der Menge, regelmässig anzutreffen. Herzi ist ein «Mensch». Schon vor seiner Ernennung zum höchsten Posten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) wurde er von der «New York Times» als der «Philosoph unter Israels Generälen» bezeichnet. Herzi ist blitzgescheit, bescheiden und stand während seiner ganzen Laufbahn in Israels Armee für jene hohen moralischen Standards ein, die diese ausmachen und auch seine eigenen Werte widerspiegeln. Ich bin auch persönlich stolz darauf, dass er dasselbe Gymnasium in Jerusalem besuchte, in welches meine beiden Söhne vier Jahrzehnte nach ihm zur Schule gingen.

Für mich symbolisiert, was Herzi geschehen ist, die Ungerechtigkeit des Lebens. Er wird nämlich für immer als «Israels IDF-Chef am 7. Oktober» in Erinnerung bleiben. Dieser schreckliche Makel wird alle anderen Errungenschaften seines Lebens schlucken, wie ein schwarzes Loch Licht verschlingt. Dieses Vermächtnis ist aus vielerlei Hinsicht unfair und unangemessen. Erstens trat er den Posten des Generalstabschefs erst Anfang 2023 an und konnte seiner neuen Armee vor dem 7. Oktober desselben Jahres kaum einen eigenen Stempel aufdrücken. Er erbte gewissermassen die sicherheitspolitische Realität, welche die Hamas-Attacke ermöglichte: allen voran ein schrecklicher Fauxpas des israelischen Geheim- und Nachrichtendienstes.

Während der zwei Jahre seiner Amtszeit hat Herzi unglaubliche Erfolge erzielen können. Er zog die IDF aus dem tiefsten Schlamm seit der Gründung Israels und führte sie von einem strategischen Triumph zum nächsten: zur kompromisslosen Bekämpfung der Hamas, welche die Rückkehr weiterer Geiseln ebnete, zur sensationellen Pager-Attacke auf die Hisbollah im Libanon sowie zur Ausschaltung der syrischen Bedrohung nach dem Fall Assads. Weiter darf man nicht vergessen, dass auch spektakuläre Militäroperationen wie bei dem Iran-Krieg, der im letzten Juni, drei Monate nach Herzis Rücktritt, stattfand, während seiner Amtsperiode minutiös geplant und bis ins letzte Detail vorbereitet wurden. Trotz all dieser Errungenschaften wird Herzi als IDF-Chef des 7. Oktober in Erinnerung bleiben.

In einer fesselnden talmudischen Erzählung ist ebenfalls vom Vermächtnis eines Menschen nach seinem Abgang die Rede: «Eines Tages befand sich Choni der Kreiszeichner auf dem Wege und sah einen Mann einen Johannisbrotbaum pflanzen. Da fragte er ihn: ‹Nach wie vielen Jahren trägt er?› Jener erwiderte: ‹Nach siebzig Jahren.› Choni fragte weiter: ‹Bist du überzeugt, dass du noch siebzig Jahre leben wirst?› Der Mann erwiderte: ‹Ich habe Johannisbrotbäume auf der Welt vorgefunden; so wie meine Vorfahren für mich pflanzten, ebenso will ich für meine Nachkommen pflanzen›» (Talmud Taanit 23a). Es gibt Errungenschaften in unserem Leben, die vielleicht erst von der übernächsten Generation gewürdigt werden, wenn überhaupt. In diesem Text ist auch die Dankbarkeit wichtig, die wir gegenüber unseren Vorvätern für ihre vorausschauenden «Pflanzungen», in deren Genuss wir kommen, zum Ausdruck bringen sollen.

Nun erzählt der Talmud die Geschichte weiter, ganz im Geiste des Films «Back to the Future»: «Hierauf setzte er sich und ass sein Brot, worauf ihn ein Schlaf befiel. Danach umgab ihn ein Felsen, und vor jedem Auge verborgen schlief er siebzig Jahre lang. Als er erwachte, sah er einen Mann die Früchte des Baumes sammeln und fragte ihn: ‹Bist du es, der diesen Baum gepflanzt hat?› Dieser erwiderte: ‹Ich bin sein Enkel.› Da sprach er: ‹Also schlief ich siebzig Jahre!› Dann sah er, dass seine Eselin mittlerweile ganze Herden geworfen hatte» (ibid.). Der Talmud ist also Robert Zemeckis, dem Regisseur und Drehbuchautor des obgenannten Filmes, mit der Idee der Zeitreise um anderthalb Jahrtausende zuvorgekommen.

Nun kommt die talmudische Geschichte zu ihrem tragischen Ende: «Als er hierauf nach Hause ging und nach dem Sohne Chonis des Kreiszeichners fragte, erwiderte man ihm: ‹Sein Sohn lebt nicht mehr, aber dessen Sohnes Sohn lebt noch.› Da sprach er: ‹Ich bin Choni der Kreiszeichner!› Man glaubte ihm aber nicht. Hierauf ging er ins Lehrhaus, und da hörte er, wie die Jünger sagten: ‹Diese Lehre ist uns so klar wie zur Zeit von Choni des Kreiszeichners!› Choni pflegte nämlich bei seinem Eintritt ins Lehrhaus alle Fragen zu beantworten, die die Jünger hatten. Da sprach er: ‹Ich bin es!› Sie glaubten ihm aber nicht und erwiesen ihm nicht die ihm gebührende Ehrung. Hierüber grämte er sich sehr, und nachdem er Gott darum gebeten hatte, starb er» (ibid.).

Das Schöne bei Chonis Zeitreise ist, dass sein Vermächtnis im Lehrhaus weiterlebt! Genauso werden Herzis Errungenschaften einen Ehrenplatz unter den erfolgreichen Operationen der IDF einnehmen. Andererseits erkennt kein Mensch Choni und auch Herzi wird von seinen Zeitgenossen nicht anerkannt. So werden Choni und Herzi zu Schatten in ihrer Gesellschaft.

Herzi tut mir leid. Das Lebenswerk eines guten Menschen und eines genialen Militärstrategen wird wegen eines tragischen Unglücks, dessen Verantwortung er nur bis zu einem gewissen Grad mitträgt, geschwärzt. Herzis Schicksal ist tragisch und herzi-zerbrechend.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn