Die Urgeschichte ist bereits abgeschlossen, wenn mit Beginn des zwölften Kapitels im Buch Genesis, hebräisch Bereschit, Awraham die Bühne bereitet wird. Von ihm weiss die Thora hier nur, dass er der Nachkomme von Terach ist, zwei Brüder hat, von welchen einer schon verstorben ist und einen Sohn Lot hinterlässt, sowie dass er mit seiner Gattin bis anhin kinderlos ist.
Wir erfahren auch, dass Awraham Awram und Sara Sarai heissen. Namensänderungen wurden bisher nicht erwähnt. Wie bedeutsam sind die zwei innerfamiliären Änderungen? Die Gematria erklärt das eigenartige Phänomen. Die Kinderlosigkeit dürfte das Paar belastet, gar die Ehe grundsätzlich infrage gestellt haben. Die Gematria stellt fest, dass bei Awram ein Heh (5) fehlt, dafür Sarai mit dem Jud (10) etwas zu reich ausgestattet ist. Wenn sie ihm fünf, also die Hälfte, abtritt, gewinnen die beiden die Möglichkeit, als Paar zu einem starken Gespann zu werden. Das braucht es auch für den Fortgang des Narrativs, denn es lauern etliche Prüfungen. Ihre Namen werden später «umgeschrieben».
Die Thora kündet mit der göttlichen Aufforderung «lech!» («geh!») in der neuen Parascha an, dass Awram ein Bewegter sein wird, ein Nomade, ein Migrant. Gott beruft Awram, sich zu entwurzeln, alles hinter sich zu lassen und zu wandern, zuerst dem Fluss entlang, dann durch die Wüste nach Westen. Ob Awram sich in der Geografie des Nahen Ostens auskennt, ist zweifelhaft, denn Gott informiert kryptisch, dass die Reise «in das Land, das ich dir zeigen werde» führen wird. Raschi erklärt die verordnete Dislozierung damit, dass Mesopotamien, diese Hochburg der Götzenverehrung, eines Monotheisten vom Kaliber eines Awrams nicht würdig sei und für dessen (noch nicht existierende) Nachkommen eine Gefahr bedeuten würde. Gibt es im neuen Land vielleicht auch religiöse Praktiken, die zu beachten wären?
Alles in allem ist bisher keineswegs klar, was für religiöse Glaubenssätze und Praktiken Awram kennt und lebt. (Das Konzept vom familieneigenen Götzenladen, wie im Midrasch ausgeführt, steht nicht in der Thora). Pflanzt Gott die neue Lehre in einen erfahrenen Praktiker, der sich jetzt von seinen Traditionen lösen muss, oder ist Awram total «leer» und wäre somit besonders empfänglich für die neue Lehre?
Dann geht die Reise los, knapp und schnörkellos. Ein halber Vers muss genügen: «(...) sie zogen in Richtung Kenaan aus und kamen in Kenaan an» (Gen 12:5), offensichtlich bar jeglicher Vorbereitung. Doch das Land Kenaan ist von Kenaanitern bewohnt, weiss die Thora. Nachdem Gott Awram noch einmal erschienen ist, baut dieser einen Altar «für den Gott, der ihm erschienen ist» (v.7). Ist das eine neue Religionspraxis oder kennt Awram so etwas aus der alten Heimat?
Die Migration geht weiter. Hat er den Altar dort stehen lassen, sozusagen einen Pflock eingeschlagen? Er gelangt in Gegenden, deren Flurnamen (Bet El, Elon More oder Schechem) der Thora geläufig sind und baut erneut einen Altar für Adonai (v.8). Dann kommt ein rätselhaftes Textstücklein, bei welchem sich die Übersetzer und Interpreten die Zähne ausbeissen: «Wajikra beschem Adonai». Hat er hier keine Opfer dargebracht? «Wajikra» (Wurzel Kuf Resch Alef) bedeutet «rufen, anrufen». Hat Awram den Namen oder im Namen Gottes gerufen? Nach erfolgreicher Ankunft Gott für ein Gebet des Dankes anzurufen, macht Sinn, aber warum oder für wen hätte er im Namen Gottes rufen sollen? Targum interpretiert es als «Beten», wegen der lauernden Gefahren am neuen Ort. Mendelssohn übersetzt nochmals anders: «… und lehrte in dem Namen des Ewigen». Im Begriff «mikra mischna midrasch» in der rabbinischen Literatur bezeichnet die Wurzel den biblischen Text schlechthin, und «tora» heisst «die Lehre»! Mendelssohns Interpretation der Textstelle ist mehr als sinnvoll, wenn auch ungewöhnlich. Und Awram wird zu Rabbenu, noch bevor er zu Awinu geworden ist.
              Sidra Lech Lecha
               
              31. Okt 2025
      
  Awram, eine Migrationsgeschichte
        
          Rabbiner Bea Wyler                  
      
       
   
 
 
 
 
 
