Die barbarische Hamas-Attacke am 7. Oktober 2023 hat die Debatte in Israel in Bezug auf die Todesstrafe für Terroristen neu entflammt. Im Laufe des Krieges flaute die Diskussion zeitweise ab, um die Sicherheit der israelischen Geiseln in Gaza nicht zu gefährden. Da nun jedoch Gott sei Dank sämtliche noch lebenden Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind, ist die Debatte um die Todesstrafe neu entfacht. Dabei geht es spezifisch um die Nukhba-Terroristen, die Spezialeinheit der al-Qassam-Brigaden, dem militärischen Flügel der Hamas, die die blutrünstige Terrorattacke am 7. Oktober primär an- und durchgeführt haben. Die Befürworter der Todesstrafe plädieren für ein einmaliges öffentliches Gerichtsverfahren mit anschliessender Hinrichtung der Nukhbas, wie es beim nationalsozialistischen Verbrecher Adolf Eichmann 1962 der Fall war. Die Gegner der Todesstrafe wenden die Tatsache ein, dass diese in den meisten demokratischen westlichen Staaten verpönt sei und Israels internationalen Status zusätzlich schwächen und schwärzen würde.
Wie steht die Thora zur Todesstrafe für Mörder? Sie verfolgt eine unmissverständlich harte Linie: «Wer Menschenblut vergiesst, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden, denn im Bilde Gottes ist der Mensch gemacht» (1. B. M. 9:6). Was hat es mit der Erklärung «denn im Bilde Gottes ist der Mensch gemacht» auf sich? Die Exegeten sind da verschiedener Meinung: Einige sagen, hier sei der Ermordete gemeint, dessen Ebenbild entheiligt wurde. Andere sagen, hier sei der Mörder gemeint, weil er durch seine grausame Tat sein eigenes göttliches Ebenbild entheiligt hat und somit seine eigene Lebenslegitimation verliert. Der mittelalterliche französische Bibelkommentator Josef Bechor Schor gibt eine dritte Erklärung: Hier sei der Richter gemeint, der im Ebenbild Gottes erschaffen worden sei und dem das Walten von Gerechtigkeit, darunter das Bestrafen der Bösewichte, obliege. Mit dieser moralischen Grundmaxime entlässt Gott Noach und seine Familie aus der Arche zum Neuaufbau der menschlichen Gesellschaft.
Die eindeutige biblische Richtungsweisung findet sich in der Moralphilosophie Immanuel Kants wieder (1724–1804): «Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit» (Immanuel Kant, «Die Metaphysik der Sitten»). Kant gibt ein interessantes Beispiel: Stellen wir uns vor, eine Gruppe von Schiffbrüchigen rettete sich auf eine einsame Insel. Eines Tages ermordete einer der Gruppe seinen Nächsten und wurde vorübergehend eingesperrt. Danach fuhr wie durch ein Wunder ein Rettungsschiff vorbei und die Schiffbrüchigen konnten zurück zur Zivilisation. Gemäss Kant jedoch «müsste der sich im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat» (Immanuel Kant, ibid.).
Die mündliche jüdische Lehre schlägt jedoch eine deutlich erbarmungsvollere Linie ein: «Ein Gerichtshof, der einmal in einer Woche eine Hinrichtung vollzieht, wird ein Verderber genannt. Rabbi Elasar, Sohn Asarjas, sagt: Einmal in siebzig Jahren! Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva sagen: Wenn wir im Obersten Gericht gesessen hätten, so würde nie ein Mensch hingerichtet worden sein!» (Mischna Makkot 1:10). Die genannten Weisen hätten die Latte der Beweisforderungen derart hoch angelegt, dass eine Verurteilung zum Tode praktisch unmöglich gewesen wäre. In der gleichen Mischna kritisiert jedoch Rabbi Schimon, Sohn Gamliels, seine Kollegen: «Diese würden auch die Blutvergiesser in Israel vermehrt haben.» Er bringt hier ein wichtiges Element ins Spiel, nämlich das der Abschreckung. Mörder werden hingerichtet, um zukünftiges Blutvergiessen zu vermeiden. Wenn wir jedoch auf unsere anfängliche Frage, die der Todesstrafe für Nukhba-Terroristen, zurückkommen, darf man bezweifeln, ob eine Todesstrafe Jihadisten, die für ihre kranke Ideologie zu sterben bereit sind, abschreckend wirkt.
Auch andere Argumente sind zwiespältig. Der populäre israelische Rabbiner und Publizist Chaim Navon ist der Meinung, ein weiterer Grund, Terroristen zu töten, sei, zukünftige gefährliche Deals, in welchen diese zu Hunderten für einige gekidnappte Israelis freikämen, zu verhindern: «Je mehr Israel den Kidnappern nachgibt, desto öfter werden die Terroristen versuchen, Israelis zu kidnappen.» Andererseits gibt es Stimmen, die meinen, dass es wichtig sei, eine gewisse Anzahl von Terroristen in israelischen Gefängnissen für allfällige zukünftige Gefangenenaustausche bereitzuhalten. Ein weiteres Gegenargument ist die Furcht davor, Unschuldige hinzurichten. In unserem Fall kann man dies jedoch getrost ignorieren: Die Hamas-Terroristen publizierten nämlich ihre eigenen Untaten mit Freude in Livestreams. Ihre Kameras sind das Beweismaterial für ihre Schuld.
Vielleicht hängt die Entscheidung mit der Frage zusammen, inwieweit der 7. Oktober in Form und Ausmass eine sehr schwer wiegende Terrorattacke darstellt. Es hat zwar seit der israelischen Staatsgründung 1948 oder, genauer gesagt, seit dem Beginn des modernen Zionismus und der jüdischen Neubesiedlung des Heiligen Landes immer wieder arabische Terrorattacken auf Juden gegeben. Als erstes jüdisches Opfer durch einen Terroranschlag lokaler Araber gilt Rabbi Shlomo Zalman Zoref, der 1851 in Jerusalem ermordet wurde. Der 7. Oktober stellt jedoch in Umfang und Grausamkeit alles Bisherige in den Schatten und ist das schlimmste Massaker, welches an den Juden seit der Schoah verübt wurde. Da liesse sich argumentieren: So wie die Durchführer des Holocaust – versinnbildlicht durch die Exekution Eichmanns – von einem israelischen Gericht mit dem Tode bestraft wurden, so soll das gleiche Schicksal die Nukhba-Terroristen des 7. Oktober ereilen. So schlösse sich der vermaledeite Kreis zwischen jenen, die die Endlösung der Juden, und jenen, die die Endlösung des Judenstaates anpeilten.
Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.
              Talmud heute 
               
              31. Okt 2025
      
  Todesstrafe für Hamas-Terroristen?
        
          Emanuel Cohn                  
      
       
   
       
       
 
 
 
 
 
