Arthur Braunschweig und Vorstandsmitglied Edi Rosenstein wollen als Co-Präsidenten in die Leitung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich – sie wollen Gestalten mit Erfahrung.
tachles: Sie beide wollen im Co-Präsidium die ICZ führen. Wie legitimiert sich ein Co-Präsidium zweier älterer Herren? Macht heutzutage nicht eine diversere Konstellation mehr Sinn?
Edi Rosenstein: Wir beide sind seit unserer Jugend eng mit der ICZ verbunden. Die Gemeinde hat uns geprägt – und wir sind überzeugt, dass wir mit unserer Erfahrung nun etwas zurückgeben können.
Arthur Braunschweig: Wir waren in verschiedensten Bereichen aktiv, ich etwa lange als Präsident der GRPK, Edi in vielen Funktionen und seit einem Jahr im Vorstand. Wir sehen uns nicht als Bewahrer, sondern als Menschen, die gestalten wollen: mit Erfahrung, ja – aber auch mit Offenheit für Veränderung. Dass mehrere kompetente Personen kandidieren, zeigt die Stärke der ICZ. Ich empfinde mich keineswegs als Quereinsteiger. Ich war mein Leben lang engagiert, nur nicht im Vorstand. Heute habe ich beruflich die Freiheit, mich stärker einzubringen. Dass es nun mehrere Kandidaturen gibt, ist eine gute Nachricht: Die Gemeinde kann auswählen. Es ist ein Zeichen funktionierender demokratischer Kultur, wenn sich verschiedene fähige Personen für dieses anspruchsvolle Amt interessieren.
Die ICZ-Debatten der letzten Wochen waren stark von Nahost-Themen geprägt. Viele Mitglieder fragen sich, ob der Konflikt quasi die Präsidentschaftswahl entscheidet. Wie sehen Sie das?
Arthur Braunschweig: Die Situation in Israel geht uns allen nahe. Die Zunahme von offenem Antizionismus und Antisemitismus, die Vermischung beider Phänomene im öffentlichen Raum – das beschäftigt die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz zutiefst. Das wirkt natürlich auch in die Gemeinde hinein. Aber für die operative Arbeit der ICZ, für das, was täglich getan wird, ist Nahost nicht der zentrale Fokus. Antisemitismus hingegen sehr wohl.
Herr Rosenstein, Sie selbst stehen im Fokus heftiger Kritik – Stichwort Forum Gescher. Ihnen wurde u. a. «antizionistisches Engagement» vorgeworfen. Wie begegnen Sie diesen Anschuldigungen?
Edi Rosenstein: Der 7. Oktober hat Emotionen aufgeladen und in manchen Diskussionen unschöne Tonalitäten hervorgebracht. Ich habe ein einziges Statement des Vereins Gescher im Juni 2024 unterzeichnet – ein rein humanitäres Statement, das ich weiterhin für richtig halte. Mehr nicht. Keine Mitgliedschaft, keine Mitarbeit, keine Funktion. Viele haben mitunterzeichnet, weil es um eine humanitäre Botschaft ging. Daraus eine Ideologie abzuleiten oder mir antizionistische Positionen zu unterstellen, ist nicht korrekt. Uns ist wichtig, in der ICZ eine Dialogkultur zu schaffen, die solche Eskalationen vermeidet.
Die ICZ hat sich in den letzten Jahren verschiedentlich öffentlich positioniert – forderte ein Demonstrationsverbot im Kontext von Palästina-Manifestationen, bei der Israel-Flagge am Stadthaus oder in Sachen Bührle. Was wäre unter Ihrer Leitung die Leitlinie?
Arthur Braunschweig: Eine jüdische Diaspora-Gemeinde darf und soll sich zu politischen Fragen positionieren, die sie direkt betreffen – Antisemitismus, Sicherheit, gesellschaftliche Debatten. Aber sie soll sich nicht zur israelischen Tagespolitik äussern. Das ist nicht unsere Aufgabe.
Und wie sieht es mit Israel-bezogenen Themen aus, die sich indirekt auch hier stellen – etwa Extremismus, Demokratiefragen oder gesellschaftliche Polarisierungen?
Arthur Braunschweig: Als Privatpersonen haben alle Mitglieder ihre Meinungen. Ich auch. Aber die ICZ selbst soll nicht die israelische Innenpolitik kommentieren. Wichtig ist nur eines: Wer hier auftritt, muss sich an die Rechtsordnung halten. Rassismus oder Gewaltaufrufe – egal von wem – sind untragbar.
Kommen wir zu einem Dauerbrenner: den Finanzen. Wie gesund ist die ICZ finanziell?
Arthur Braunschweig: Wir sind weder in einer Notlage noch in idealer Verfassung. Wir sind dazwischen. Zwei wichtige Gremien – Vision 2030 und die Finanzanalysegruppe – arbeiten bereits an tragfähigen Reformen. Egal, wer gewählt wird: Diese Arbeit muss konsequent weitergeführt und umgesetzt werden. Das wird anspruchsvoll, denn gute Ideen zu entwickeln ist schwer – sie umzusetzen noch schwerer.
Sie wollen gestalten, nicht nur verwalten. Wo sehen Sie konkrete Handlungsfelder?
Edi Rosenstein: Wir stehen vor widersprüchlichen Anforderungen: Wir müssen Ausgaben reduzieren, gleichzeitig Familien entlasten, die Steuern senken und junge Erwachsene stärker binden. Das ist eine enorme Herausforderung. Wir werden prüfen müssen, wo Prozesse effizienter werden können, wo es strukturelle Anpassungen braucht und wo Leistungen so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen entsprechen, ohne die Gemeinde zu überfordern.
Und die Steuerplafonierung: War das richtig oder falsch?
Edi Rosenstein: Sie betrifft nur wenige. Sie abzuschaffen könnte mehr schaden als nützen. Wichtiger ist, den Dialog zu suchen und philanthropische Lösungen zu fördern.
Edi Rosenstein, Sie sind beruflich mit dem Haus der Jüdischen Jugend und der Noam verbunden, die nur Dank Philanthropie exisitieren. Gerade ICZ-Familien stehen heute finanziell unter Druck. Wird unter Ihnen die Schule stärker von der Gemeinde unterstützt und werden Familien entlastet?
Edi Rosenstein: Eine engere Zusammenarbeit wäre wünschenswert. Aber die Noam hat eine eigene Identität und eigene Gremien. Wir müssen gemeinsam prüfen, wo Synergien möglich sind. Das Schulgeld ist im Vergleich zu anderen Privatschulen niedrig, dennoch bleibt es für viele eine Belastung. Entlastungen bedeuten aber immer höhere Ausgaben – und diese müssen irgendwo eingespart oder über Drittmittel kompensiert werden. Es geht nicht um kurzfristige Versprechen, sondern um realistische Wege, wie wir eine qualitativ starke jüdische Bildung langfristig sichern.
Die Arbeitsgruppe Vision 2030 zeigt, dass die Gemeinde älter wird, die Mobilität zunimmt, die Bindung junger Mitglieder sinkt. Was ist Ihre Strategie?
Edi Rosenstein: Die Solidaritätsidee, mit der wir aufgewachsen sind – man gehört selbstverständlich zu einer jüdischen Gemeinde – ist bei vielen 20- bis 30-Jährigen nicht mehr selbstverständlich. Wir müssen neue, zielgruppenorientierte Formate schaffen, sichtbarer kommunizieren und Gründe bieten, warum man Mitglied bleibt.
Arthur Braunschweig: Dazu kommt die enorme Vielfalt, die die ICZ heute auszeichnet: orthodoxe Minjanim, moderne Gottesdienste, die Expat-Community, egalitäre Initiativen. Unsere Aufgabe ist es, diese Breite nicht nur zu tolerieren, sondern aktiv zu integrieren. Das unterscheidet uns von den Gemeinden unserer Väter. Wir müssen diese breite Klammer halten – und erhalten.
Zürich hat ein vielfältiges Angebot: Chabad, unabhängige Minjanim, Wollishofen, Brunau. Gleichzeitig bleibt die zentrale Synagoge oft halbleer. Wie gehen Sie damit um?
Edi Rosenstein: Die Synagoge ist schlicht nicht mehr geografischer Mittelpunkt jüdischen Lebens. Aber wir pflegen sie weiterhin, organisieren regelmässige Minjanim und würdige Gottesdienste. Wir werden prüfen müssen, ob Angebote ins Gemeindehaus verlegt werden könnten, wo ohnehin Security vorhanden ist.
Arthur Braunschweig: Chabad bietet ein emotionales, niedrigschwelliges Angebot – aber keine vollständige Gemeindestruktur. Bei uns in der Gemeinde kann man mitgestalten. Das ist unser Vorteil. Und wir werden unser Bestes tun, um Menschen wieder zur ICZ zurückzuführen – wissend, dass Chabad weiterhin da sein wird.
Viele wünschen sich ein koscheres Restaurant in Zürich und zugleich günstigeres Catering im Gemeindesaal. Wo sehen Sie da die Aufgabe der ICZ?
Arthur Braunschweig: Wir müssen mit den vorhandenen Möglichkeiten das Optimum erreichen. Ein eigenes gastronomisches Angebot durch die Gemeinde hat nicht funktioniert, die Kosten waren unverhältnismässig.
Edi Rosenstein: Der aktuelle Vertrag mit Schalom Air Catering besteht. Vor Ablauf dieses Vertrags muss neu überlegt werden, wie ein zeitgemässes, leistbares Modell aussehen kann – für Alltagsangebote, für die ICZ und auch für Simches.
Wenn Sie gewählt werden, was steht ganz oben auf der Agenda?
Edi Rosenstein: Die Vision 2030 weiterentwickeln und die Umsetzung vorbereiten. Dialogräume schaffen, um Polarisierungen zu überwinden – besonders zwischen eher national orientierten und eher humanistisch geprägten Mitgliedern. Strukturen modernisieren, um Effizienz und Qualität zu erhöhen.
Arthur Braunschweig: Wir möchten ein grosses mitteleuropäisches Netzwerkformat für junge jüdische Erwachsene schaffen, ein regelmässiges Treffen in oder um Zürich, das Austausch, Identität und Begegnung fördert. Das stärkt nicht nur jüdisches Leben, sondern auch die Chancen, dass junge Menschen hier bleiben, hier Familien gründen und die ICZ zu ihrer Heimat machen.