standpunkt 12. Jun 2025

Flüchtlingshilfe mit Verantwortung

Der Internationale Flüchtlingstag am 20. Juni mahnt uns, nicht zu vergessen – weder die Schicksale der Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, noch die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft, die über Jahrtausende hinweg immer wieder Verfolgungen ausgesetzt war und Zuflucht suchen musste.

Für den Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) ist dieser Tag nicht nur ein symbolischer Akt. Er erinnert uns an die Verpflichtung zu aktivem Handeln. Und er ist ein Prüfstein dafür, ob wir unseren Werten auch dann treu bleiben, wenn dies herausfordernd wird.

In den 1930er- und 1940er-Jahren stand der VSJF jüdischen Geflüchteten in der Schweiz mit vielfältiger Unterstützung zur Seite: mit Vermittlung von Wohnraum, finanzieller Hilfe, rechtlichem Schutz und nicht zuletzt persönlicher Zuwendung in einer Zeit existenzieller Not.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der VSJF eine zentrale Rolle in der Betreuung von Holocaust-Überlebenden. Viele von ihnen waren körperlich geschwächt, schwer traumatisiert und ohne Familie, Perspektive oder Heimat zurückgeblieben. Mit Unterkünften, medizinischer und finanzieller Unterstützung begleitete sie der Verband langfristig beim Wiederaufbau eines Lebens in Würde.

Diese Arbeit, geprägt von Solidarität, Ausdauer und Verantwortungsbewusstsein, bildet bis heute das Fundament unseres Handelns.

Aktuell zwingen erneut Kriege, politische Instabilität und Armut Millionen zur Flucht. Seit dem von Russland begonnenen Krieg gegen die Ukraine haben zahlreiche Geflüchtete in Europa Schutz gefunden. Zehntausende von ihnen hat die Schweiz aufgenommen; sie werden in unserem Land durch Behörden, wohltätige Organisationen und Privatpersonen unterstützt. Dies zeigt: Wenn der politische und gesellschaftliche Wille vorhanden ist, dann wird Hilfe auf allen Ebenen innerhalb kürzester Zeit zur Realität.

Auch der VSJF war von Beginn an für jüdische Geflüchtete aus der Ukraine im Einsatz, mit alltagsnaher Unterstützung, psychosozialer Beratung und als einfühlsames Gegenüber, das zuhört, begleitet und respektvoll zur Seite steht.

Denn gerade das fehlt geflüchteten Menschen in der Fremde oft am meisten.

Bei seiner Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine beschränkt sich der VSJF nicht nur auf jüdische Flüchtlinge. Zum zweiten Mal hat Caritas Schweiz mit dem VSJF als Partner das Bundesmandat für den unentgeltlichen Rechtsschutz in den Bundesasylzentren der Westschweiz erhalten. Dabei berät der VSJF über ein Viertel aller in der Schweiz einreisenden Asylsuchenden über das Asylverfahren und unterstützt sie bei verschiedenen Fragen.

Damit stellen wir nicht nur unser grosses Fachwissen unter Beweis. Dem VSJF ist es ebenso wichtig, Menschen fachlich fundiert zu beraten und ihnen mit Respekt zu begegnen. Dieses Engagement versteht der VSJF als Ausdruck jüdischer Solidarität.

Wir sind uns bewusst, dass manche Geflüchtete aus Gesellschaften stammen, in denen antisemitische oder rassistische Denkmuster verbreitet sein können. Sollten sich entsprechende Haltungen zeigen, tolerieren wir diese nicht. Wir sind aber überzeugt, dass Offenheit, eine klare Haltung und die Möglichkeit echter Begegnung Wege eröffnen können, um Vorurteile abzubauen und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Flüchtlingshilfe ist für uns deshalb eine Tätigkeit, die Menschlichkeit und Wachsamkeit miteinander verbindet.

Im Talmud heisst es: «Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.» Dieser Satz besagt, dass jedes Leben zählt und dass jede Hilfe zum Schutz menschlichen Lebens auch ein Beitrag zum Fortbestand unserer Gesellschaft und Gemeinschaft ist.

Der internationale Flüchtlingstag soll uns deshalb auch daran erinnern, was uns als Gesellschaft ausmacht. Für den VSJF ist es deshalb wichtig, dass wir neben dem Leid der Schutzsuchenden nicht vergessen, wofür wir als schutzbietende schweizerische Gesellschaft stehen.

So vereint der VSJF die Solidarität mit jenen, die unsere Mitmenschlichkeit und Hilfe brauchen, mit der Solidarität für unsere Gesellschaft, deren Teil wir sind und deren Werte wir leben und verkörpern.

Noëmi van Gelder ist Präsidentin Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen.

Noëmi van Gelder