schweiz 06. Jun 2025

Fluchtgeschichten auf der Spur

Das Foto aus Stefan Kellers Buch «Grüningers Fall» zeigt eine Grenzsperre im St. Galler Rheintal.

Wer sich für die Schweizer Flüchtlingsgeschichte während des Zweiten Weltkriegs interessiert, kann auf Touren entlang der sogenannten Grünen Grenze mitlaufen und interessante Einblicke gewinnen.

tachles: Wie kamen Sie auf die Idee, die Touren entlang der Grünen Grenze zu planen?
Franziska Bark Hagen: Ich bin Theologin und Judaistin und habe mich, als ich vor Jahren am Jüdischen Museum Berlin tätig war, schon mit jüdischen Fluchtgeschichten auseinandergesetzt. Hier in der Schweiz ist mir aufgefallen, dass dies kaum ein Thema ist. Inzwischen habe ich das Pilgerpfarramt der reformierten Kirche inne und das bot mir einen Rahmen, mich der historischen Fluchtrouten erneut anzunehmen. Als ich zudem innerhalb meines Teams den Enkel eines Grenzwächters kennenlernte, sind wir gemeinsam die erste Tour entlang der Grünen Grenze ab Grenzach gelaufen. Das war der Anfang. Im Dialog mit dem Zentrum für Jüdische Studien und dem Jüdischen Museum Schweiz wurde dann ein wissenschaftlich gut abgesichertes Projekt daraus: Inzwischen sind es fünf Touren und das Jüdische Museum ist Kooperationspartnerin. Etwa zeitgleich wurde beschlossen, dass das Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus in der Schweiz entstehen soll. Es wird aber wohl noch eine Weile dauern, bis dieses Projekt realisiert ist. Diese Menschen haben bislang kein Memorial – die Landschaft ist ihr Memorial. Wir starten schon mal, laufen los und erzählen vor Ort ihre Geschichten.

Barbara Häne: Ich bin im Jüdischen Museum Schweiz für das Ressort zuständig und habe auch meine Dissertation über die Jüdische Flüchtlingshilfe in der Schweiz geschrieben. Die Art der Vermittlung, bei der man direkt an Ort und Stelle ist, finde ich sehr fruchtbar. Das Laufen zwischen den einzelnen Stationen regt den Geist an und man kann das Erzählte gut aufnehmen.

Franziska Bark Hagen: Ich denke auch, das Format ist gut geeignet, um komplexe Themen zu veranschaulichen: Es macht etwas mit den Menschen, physisch nachzuvollziehen, wo die oft lange Flucht der Menschen damals in der Rettung oder in der Verzweiflung endete. Es ist auch eine Art gemeinsamen Gedenkens, indem wir die Biografie der flüchtenden Menschen erzählen und sie namentlich nennen.

Spüren Sie nur den Schicksalen der Geflüchteten nach?
Franziska Bark Hagen: Nein, wir wechseln bewusst die Perspektiven. Natürlich zeigen wir die Geschichte von Geflüchteten, aber eben auch die des Grenzwächters oder die Schicksale von Fluchthelferinnen und Fluchthelfern. Wir möchten vor Ort aufzeigen, in welchen Abhängigkeiten die Menschen zueinander standen und ein Verständnis für die Zusammenhänge der damaligen Zeit vermitteln.

Steht das Konzept in Verbindung mit den sogenannten Stolpersteinen, die vor Ort an die Geschichten einzelner Personen erinnern?
Barbara Häne: Tatsächlich möchte ich Stolpersteine auf den Touren als Marker in der Landschaft nutzen und etwas zu den Biografien einzelner Personen erzählen. In Basel werde ich sicher über Gaston Dreher sprechen, der als Jude nach Frankreich abgeschoben wurde und 1944 im KZ Auschwitz ermordet wurde.

Wie sind Sie auf die fünf verschiedenen Touren gekommen?
Franziska Bark Hagen: Das hängt von den Personen ab, die ich für dieses Projekt gewinnen konnte. Neben Barbara Häne bin ich auch mit anderen Historikerinnen und Historikern wie Stefan Keller oder Katrin Schregenberger ins Gespräch gekommen, die Touren vorgeschlagen haben, deren Geschichten sie bereits recherchiert haben. Das Konzept ist bei Interesse auch ausbaubar und das Programm würde sich auch gut für Schulklassen anbieten. Aber jetzt laufen wir erst einmal los, bringen es ganz buchstäblich auf den Weg und dann schauen wir weiter.

Das Thema Flucht und Migration ist ja auch wieder sehr aktuell.
Franziska Bark Hagen: Absolut. Wenn wir eine Offenheit und Empathie für diese sensiblen Themen erhöhen können, wäre viel gewonnen. Es geht nach wie vor und ganz aktuell um die Durchlässigkeit der Landesgrenzen und damit auch um Menschen, die absolut bedürftig sind und deren Leben oft davon abhängt, ob sie aufgenommen werden oder nicht. Die Schweiz versteht sich diesbezüglich damals wie heute als Transitland.

Barbara Häne: Ich denke, hinsichtlich der Verantwortung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg hat schon ein Umdenken stattgefunden. Das sieht man ja auch daran, dass das Memorial nun geplant wird. Vielen Menschen ist aber nicht bewusst, dass zahlreiche Personen, die gut integriert in der Schweiz leben, eine Fluchtgeschichte haben. Zum Beispiel Nachkommen jüdischer Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg. Wir reden immer von den aktuellen Problemen in der Flüchtlingspolitik. Ich als Geschichtswissenschaftlerin möchte die historischen Fluchtgeschichten nicht auf die heutige Zeit übertragen, aber es gibt viele Punkte, die heute wie damals aktuell sind.

Welche zum Beispiel?
Barbara Häne: Die Menschen, die auf der Flucht sind, haben damals wie heute teils traumatische Erfahrungen gemacht. Wir in der Schweiz reagieren auf die Schicksale anderer Menschen immer noch sehr unempathisch.

Wie sieht eine Tour zum Beispiel aus, wie kann man sich so einen Ausflug in die Vergangenheit vorstellen?
Barbara Häne: Meine Tour nach Riehen startet in Lörrach. Ich werde die Geschichte einer jüdischen Familie in Lörrach erzählen, in der die einzelnen Familienmitglieder sehr unterschiedliche Schicksale erfahren haben. Zwei Kindern ist es schon in der Vorkriegszeit gelungen, in die Schweiz zu kommen. Die Mutter und zwei weitere Kinder sind deportiert worden. An der Grenze erzähle ich dann vor Ort, wie die Flucht in die Schweiz gelungen ist. Wir werden die sogenannte Eiserne Hand entlanglaufen, das ist ein knapp 1,7 Kilometer langes und maximal 300 Meter schmales Landstück, das nach Deutschland hineinragt, aber zur Schweiz gehört. Wir laufen zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her. Man sieht die Grenzsteine, weiss vor Ort aber oft dennoch nicht, ob man sich in der Schweiz oder in Deutschland befindet. Das ist tagsüber schon nicht einfach, aber viele Flüchtende waren ja nachts unterwegs. Die Tour geht weiter zum Maienbühl. Dort erinnere ich an eine Person, die damals dort gearbeitet und viele ankommende Flüchtlinge bei ihrer Ankunft erlebt hat.

Franziska Bark Hagen: Während wir zum Beispiel die Eiserne Hand entlanglaufen, werden wir schweigend gehen. Es soll kein Trauermarsch sein, aber die Teilnehmenden sollen schon in Ruhe wahrnehmen können, wo sie sich da befinden. Und natürlich tauschen wir uns dann auch wieder miteinander aus. Wir sind gemeinsam der Geschichte auf der Spur.

Warum ist es so wichtig, die Erinnerung wachzuhalten?
Franziska Bark Hagen: Ich habe manchmal den Eindruck, in der Schweiz vergessen wir ab und zu, dass die Geschichten, die wir erzählen, tatsächlich mit uns verzahnt sind. Die haben alle hier stattgefunden. Sie sind, aus welcher Perspektive auch immer, Teil unseres kollektiven Unterbewusstseins. Es lohnt sich, über diese Dinge zu sprechen und sie gemeinsam in Erinnerung zu rufen. Sie gehören zu vielen Schweizer Familiengeschichten dazu. Und ich bin sehr gespannt, welche Geschichten wir vielleicht auf unseren Touren von Teilnehmerinnen und Teilnehmern hören werden, die sich auch an die Vergangenheit ihrer eigenen Familie oder der Nachbarschaft erinnern.

Barbara Häne: Ich finde es wichtig, an die Grenzen von damals zu erinnern, da wir heute ein ganz anderes Verständnis von Grenzen haben. Es ist interessant, zu sehen, wie die Grenzverläufe in der Region verlaufen, um zu verstehen, was damals passiert ist. Heute laufen wir auf Spaziergängen unbeschwert von einem Land ins andere, aber während des Zweiten Weltkriegs sah die Situation ganz anders aus. Auf unserem Gang wird sehr eindrücklich sichtbar, wie leicht man von der Schweiz nach Deutschland oder Frankreich wechseln kann – oder eben auch nicht. Wir zeigen auf, wer ein Schlupfloch gefunden hat und wer aufgegriffen oder zurückgeschickt wurde. Es wird immer wieder klar: Oft war es reine Glückssache, ob eine Flucht gelang oder nicht.

https://pilgerzentrum-zuerich.ch/pilgern-thematisch/gruene-grenze/

Valerie Wendenburg