Die literarische Kolumne von Sibylle Berg.
«Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat.»
Baruch de Spinoza
Ich lebe gerne in der Schweiz. Es war mir immer, wie in einer wohltemperierten Badewanne zu liegen, in der einem nichts wirklich Schreckliches passieren kann. Ich mochte die pragmatisch bauernbasierte Basis des Miteinander-Verhandelns, die Toleranz, die leichte Verklemmtheit und das bequeme Leben, das dieses Land den meisten zur Verfügung stellte. Bis viele Bekannte aus der Stadt verschwanden, weil sie keine Wohnungen mehr fanden. Irgendwann vor vielleicht zehn Jahren wandelte sich der Kapitalismus zum Neoliberalismus, eine Prise Überwachungsfaschismus wurde darüber gestreut, und die Bevölkerungen der westlichen Länder trennten sich in sehr Reiche und den Rest. Mit Verspätung erreichte die grobe Ungerechtigkeit die Schweiz. Wohnungsnot, schwarze Listen, um Menschen nur minimal medizinisch zu behandeln, die mit ihren Kassenzahlungen säumig waren. Ständig steigende Preise für alles. Die zunehmende Überwachung und die dazugehörige Digitalisierung von allem lassen Menschen vereinsamen und schliessen viele vom gesellschaftlichen Leben aus. Die Bespitzelung von Sozialhilfeempfangenden, die zunehmende Unbarmherzigkeit. Immer absurdere Gesetze wurden erlassen, wie das «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus», das Radikalisierung so früh bekämpfen will, dass selbst das Ausspucken eines Kaugummis als Verbreitung von Angst und Schrecken gelesen werden und einen Jugendlichen präventiv ohne Prozess in Gewahrsam setzen kann. Seit 2015 haben wir ein allen Menschenrechts- und Pressefreiheitsregeln wiedersprechendes Gesetz, das Journalisten mit Strafverfahren droht, wenn sie Recherchen anstellen, die geleakte Insiderinformationen bei Bankverbrechen beinhalten. Kurz gesagt, wir gehen nicht gegen Verstösse von Banken vor, sondern gegen jene, die ihre Aufgabe als Kontroll-Instanz wahrnehmen. Die Schweiz, die sich Banken und Firmenrettung leisten kann, in der permanent von Gewinnen und Milliardenüberschüssen die Rede ist, könnte sich so viel Besseres erlauben, sie könnte der Leuchtturm eines humanen Staates sein. Eine radikale Menschlichkeit, keine Armut, kostenlose Kinderbetreuung, Gesundheitsdienste und Transport.
Eine schöne Utopie, von der man träumen kann, solange der Rest der Bevölkerung an ihrer Hände Arbeit glaubt, bis sie durch eine Krankheit, ein Unglück oder eine Entlassung, nicht mehr dazugehören, zu dem friedlichen wohlhabenden Volk der Schweizer. Stattdessen schafft die neutrale Schweiz Waffen für Milliarden an, arbeitet an geheimen Verträgen mit der EU, die sich gerade im latenten Irrsinn vom Rest der Welt isoliert, und vergisst ihre Rolle in der Welt der Diplomatie. Langsam ändert sich die DNA des Landes, langsam verschwindet, was uns so einzigartig gemacht hat. Und langsam könnten die Einwohner sich wieder darauf besinnen, was sie stark gemacht hat: Zusammenhalt, Solidarität und Pragmatismus. Denn die Macht haben wir, das Volk.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.