Im Gespräch 23. Sep 2022

«Das Problem ist die Therapie»

Bundespräsident Ignazio Cassis möchte in Nahost wiederum eine aktiviere Rolle der Schweiz formulieren.

Bundespräsident Ignazio Cassis führt die Schweiz durch aktuelle Krisen und hat die Neutralitätsdebatte neu lanciert – ein Gespräch zum jüdischen Jahreswechsel über Krieg, Vermittlung in Nahost und Forderungen der Schweizer Juden.

tachles: 2022 ist mit all seinen Herausforderungen – Pandemie, Krieg in Europa, Energie- und Wirtschaftsungewissheiten – vielleicht ein historisches Jahr. Wer ist da mehr gefordert, Sie als Aussenminister oder das Innen- und Wirtschaftsministerium?
Ignazio Cassis: Es wäre sicher besser, in einem Jahr ohne Krieg in Europa zu leben, egal in welchem Departement. Es ist ein Jahr mit vielen Herausforderungen für uns alle, innen- und aussenpolitisch. Innenpolitisch hinsichtlich der Energie, der Migration der schutzsuchenden Menschen, der Unsicherheit in der Bevölkerung, der Inflation und so weiter. Aussenpolitisch haben wir eine unruhige Welt mit zahlreichen Krisen und mit Auf- statt Abrüstung. Es ist bestimmt nicht übertrieben, von einer Zeitenwende zu sprechen.

Die aktuellen Krisen zeigen, dass kleine Länder kaum autonom entscheiden können. Die Schweiz vollzieht in Sachen Ukraine-Krieg oder Wirtschaftskrisen, was im Ausland geradezu vorgegeben wird. Wie autonom kann ein Land wie die Schweiz in solchen Krisen sein?
Als wir endlich Licht am Horizont der Corona-Krise sahen, kam mit dem Krieg eine zweite Krise. Der Militärangriff Russlands auf die Ukraine ist auch eine Folge der geopolitischen Instabilität, die in den letzten Jahren zunahm. Wir sehen die direkten Konsequenzen daraus auch bei uns, etwa im Energiebereich oder bei der Migration. Diese weltpolitische Instabilität kann die Schweiz nicht alleine meistern. Und wir sehen, dass dieser Krieg bei uns anders wahrgenommen wird als z. B. in Asien oder Afrika. Es gibt grosse Unterschiede in der Lesart dessen, was passiert. In dieser neuen Welt muss auch die Schweiz ihren Platz definieren. Dazu stellen sich zentrale Fragen, wie die danach, «welche Neutralität» und «welche Aussen- und Sicherheitspolitik» die Schweiz will.

Kann man in der heutigen multilateralen und eng vernetzten Welt überhaupt neutral sein?
Ja, natürlich. Die Schweiz will neutral bleiben. Diese permanente und bewaffnete Neutralität ist ein identitätsstiftender Faktor unseres Landes – daran wird nicht gerüttelt. Das hat mit unserer geographischen Position und unserer Geschichte zu tun. Die Frage ist, wie man die Neutralität heute auslegt, wie man sie in den sicherheits- und aussenpolitischen Entscheiden der Schweizer Regierung glaubwürdig gestaltet.
Vor ein paar Wochen hat der Bundesrat diesbezüglich eine Aussprache geführt. Er ist der Ansicht, dass die heute praktizierte Neutralität genügend Handlungsspielraum bietet, um auf die aktuellen Krisen reagieren zu können. Er hat zudem entschieden, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter auf die internationale Zusammenarbeit auszurichten und Möglichkeiten für eine engere Kooperation mit der Nato und der EU zu prüfen. Wir wollen auch eine aktive Rolle in der Prägung der neuen Sicherheitsarchitektur des Kontinents spielen, ohne indessen die Neutralität aufzugeben.

Ist seit Beginn des Krieges mit der Frage nach unserer Stellung zur Nato der Neutralitätsbegriff nicht noch mehr herausgefordert?
Die Neutralität ist wie die Politik auch keine exakte Wissenschaft. Klar ist allerdings ihr harter Kern, sprich das Neutralitätsrecht, denn dieses ist völkerrechtlich definiert. Grundsätze wie «Wir nehmen an keinem zwischenstaatlichen Krieg teil», «Wir liefern keine Waffen an kriegführende Parteien», «Wir stellen kriegführenden Armeen unser Territorium nicht zur Verfügung» oder «Wir nehmen an keiner militärischen Allianz teil» sind die wenigen Verpflichtungen einer Neutralität. Aber Sicherheits- und Aussenpolitik entwickeln sich permanent. Daraus entsteht die Neutralitätspraxis, welche das Ziel hat, unsere Neutralität gegenüber anderen Ländern glaubwürdig zu machen. Der Bundesrat hat die heutige Neutralitätspraxis bestätigt.

Der Neutralitätsbericht hat vor zwei Wochen heftige Reaktionen ausgelöst.
Die Frage der Neutralität löst immer heftige Reaktionen aus, weil sie eben identitätsstiftend ist. Ein in Zusammenarbeit mit drei weiteren Departementen erarbeiteter Neutralitätsbericht wurde diskutiert. Er stellte verschiedene Optionen zur Auslegung der Neutralitätspraxis dar, darunter auch die medial diskutierte kooperative Neutralität. Der Bundesrat konnte aufgrund dieses Berichtes eine Aussprache führen. Er kam zum Schluss, dass die heutige Neutralitätspolitik im aktuellen Umfeld genügend Handlungsspielraum für die Sicherheits- und Aussenpolitik bietet.

Die Schweiz ist dem Kernwaffenverbotsvertrag beigetreten, nicht aber dem Atomsperrvertrag. Sie haben im Sommer in New York bei der Überprüfungskonferenz des Atomsperrvertrags nochmals die Schweizer Position erläutert. Wie steht das zur Neutralität?
Es sind zwei unterschiedliche Debatten. Die Schweiz will eine Welt ohne Atomwaffen, deshalb ist sie 1977 dem Atomsperrvertrag NPT beigetreten. Dieser wurde weltweit von 191 Ländern unterschrieben, darunter auch solchen, die Nuklearwaffen haben. Der neue Vertrag, der sogenannte Kernwaffenverbotsvertrag TPNW, beinhaltet ein Totalverbot von Atomwaffen. Das ist auch unser Ziel. Bis heute wurde dieser neue Vertrag allerdings nur von wenigen europäischen Ländern unterzeichnet – und von keinem Land mit Nuklearwaffen. Kann die internationale Gemeinschaft eine Welt ohne Nuklearwaffen erreichen, ohne Beteiligung der Atomwaffenmächte? Es geht also um die Frage der Wirksamkeit vom TPNW. Zudem soll er nicht die Lage polarisieren und den NPT gefährden. Diese Fragen werden nun von Experten geklärt. Basierend auf ihrem Bericht wird der Bundesrat Anfang nächsten Jahres eine Neubeurteilung vornehmen.

Sie haben bei seinem Staatsbesuch in Bern Präsident Herzog die Guten Dienste in der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien angeboten. Wo steht die Schweiz bei diesen langjährigen Bemühungen und was haben Sie Präsident Herzog gesagt?
Es war eine Freude, Präsident Herzog und seine Frau in der Schweiz zu haben, auch auf menschlicher Ebene. Gesprochen haben wir über die Welt- und regionale Politik sowie über unsere bilateralen Beziehungen. Die Abraham-Abkommen und die neuen Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt sowie der israelisch-palästinensische Konflikt standen dabei im Zentrum des Gesprächs. Die Schweiz bleibt sehr aktiv in ihren Bemühungen, Israel und Palästina an einen Dialogtisch zu bringen. Ich habe sogar einen Sonderbotschafter, Herrn Wolfgang Brülhart, mit diesem Ziel beauftragt. Aber die Lage ist bekanntlich schwierig: Die verschiedenen Regierungswechsel in Israel sowie die Fragmentierung der palästinensischen Behörden und die stete Verschiebung der israelischen Wahlen sind keine guten Voraussetzungen.

Ist der Eindruck, dass die Ausrichtung nun weniger in die Zivilgesellschaft, aber vermehrt in Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik geht, richtig?
Wir suchen neue integrative Wege und fokussieren dabei vor allem auf die Jungen. Wir fördern Projekte, bei denen junge Menschen – von Israel und von Palästina – gemeinsam im Arbeitsmarkt arbeiten können. Das sind neue Akzente für die immer gleiche Strategie der Schweiz: eine Zweistaatenlösung im Sinne der Uno-Resolutionen. Wir arbeiten auch weiterhin mit der Zivilgesellschaft zusammen, aber in leicht angepasster Form. So haben wir zum Beispiel die Anzahl der NGOs, die im Menschenrechtsbereich für uns tätig sind, um die Hälfte auf rund 30 reduziert.

Sie hatten die Absicht, in Bezug auf die UNRWA vieles zu ändern. Wo stehen Sie heute?
Einiges konnte ich ändern. In einem Bericht des Bundesrates zur UNRWA konnten wir Schwächen und Stärken dieser Organisation aufzeigen. Zuvor wurde immer nur von den Stärken gesprochen. Zweitens finanzieren wir die UNRWA zwar weiter, aber wir verfolgen ihre Arbeit enger. Beim neuen Direktor Lazzarini habe ich ein gutes Gefühl. Er ist sich z. B. auch der Problematik des umstrittenen Schulmaterials der Palästinensischen Behörden bewusst und willig, dies zu korrigieren. Für mich ist es fundamental, dass in den UNRWA-Schulen nichts unterrichtet wird, das Hass gegen Israel schürt oder nicht mit unseren Werten kompatibel ist. Wir unterstützen den Direktor mit einem Mitarbeiter meines Departements. Wir wollen unsere Präsenz stärker zeigen.

Wie schwierig machen es das übertragbare Flüchtlingsrecht der Palästinenser und das israelische Recht auf Rückkehr der Schweiz, für lösungsorientierte Positionen?
Der Flüchtlingsstatus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mit der Absicht geschaffen, dass er 100 Jahre dauert. Leider sind wir aber noch nicht so weit, dass es die UNRWA nicht mehr braucht. Ich spüre jedoch überall eine gewisse Müdigkeit, was die aktuelle Situation betrifft. Um diese zu ändern, braucht es eine politische Lösung.

Die Schweiz ist im Juli in den Sicherheitsrat gewählt worden. Was sind die Prioritäten für die Uno-Vollversammlung?
Die Schweiz hat für den Einsitz im Sicherheitsrat für das Jahr 2023/2024 vier Prioritäten definiert: nachhaltigen Frieden zu fördern, die Zivilbevölkerung zu schützen, Klimasicherheit anzugehen und die Effizienz der Uno zu stärken. Dann sind wir mit der schwierigen Situation konfrontiert, dass mit Russland eines der fünf permanenten Mitglieder Krieg gegen ein anderes Land führt. Das widerspricht gänzlich der Uno-Charta. Das wirft die Frage auf, ob der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Multilateralismus an einer Wende angelangt ist. Das beschäftigt natürlich die ganze Weltgemeinschaft, und darüber sprechen wir intensiv – das wird sicher das Hauptthema der Uno-Vollversammlung in New York sein. Dazu kommen aber auch die Ernährungskrise, die Sicherheitsarchitektur etc.

Grosse Probleme gab es schon immer, aber die Frequenz ist höher geworden. Wie gut können Sie als Verantwortungsträger dieses Landes da noch arbeiten und schlafen?
Die Schweiz, Europa und die ganze Welt stehen vor grossen Herausforderungen. Die Krisen sind häufiger und länger geworden. Das ist eine grosse Belastung für alle Menschen. Der Bundesrat versucht auch in diesen schwierigen Zeiten, immer die besten Lösungen für unser Land zu finden. Das ist nicht immer einfach. Und ich gebe zu, viel Schlaf gibt es im Moment nicht.

Hilft es Ihnen, dass Sie als Arzt gewohnt sind, Diagnosen zu stellen und die richtigen Therapien zu verordnen?
Das Problem ist nicht die Diagnose – sie ist schwierig, aber machbar. Das Problem ist die Therapie. Es ist wie in der Medizin: Die Diagnosemöglichkeiten sind in den letzten 30 Jahren immer besser geworden, die Therapien leider nicht unbedingt. Die Kurve zwischen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten divergiert immer mehr. Und wozu soll ich wissen, welche Krankheit ich habe, wenn es nicht die richtige Behandlung dafür gibt? Das hat allenfalls noch zusätzliche negative Konsequenzen: Ich weiss, dass ich krank bin, aber kann trotzdem nichts dagegen tun. Ähnlich läuft es im Moment in der Politik. Die richtige Therapie gegen viele Krisen ist meiner Meinung nach der Multilateralismus. Doch der Multilateralismus schwächelt im Moment, weil er nur so stark ist wie das Bekenntnis der mächtigen Länder dazu. Und dieses klare Bekenntnis fehlt leider zunehmend.

Europa und auch der Schweiz stehen möglicherweise schwierige Monate bevor. Wie gross ist für Sie als Bundespräsident Ihre Sorge um die Schweiz?
Ich nehme diese Aufgabe sehr ernst. In meinem Präsidialjahr ist es mir wichtig, oft zur Bevölkerung zu sprechen und den Menschen an den verschiedensten Orten zu begegnen, um zu hören, was sie bewegt, wo der Schuh drückt. Und ich kann versichern: der Bundesrat tut alles, damit wir als Land so gut wie möglich durch die nächsten – womöglich schwierigen – Monate bringen.

Nächstes Jahr sind Wahlen. Wie schwierig ist es, keinen Wahlkampf zu machen, sondern die Funktion auszuüben und gleichzeitig Ihre Partei, die FDP, zu portieren?
Ich stehe im Dienst des Volkes und der Verfassung, das ist meine Mission und mein Auftrag. Das mache ich gerne, mit grosser Überzeugung und Einsatz. Das Parlament wählt den Bundesrat, da kann und will ich mich nicht einmischen.

Der Bundesrat wurde am 125-Jahr-Jubiläum des ersten Zionistenkongresses in Basel nicht von Ihnen, sondern von Wirtschaftsminister Parmelin vertreten. Ist das eine Aussage des Aussenministers auch an die Adresse Nahost gewesen?
Die Antwort dazu ist ganz einfach. Letztes Jahr hat Guy Parmelin Präsident Herzog in Israel besucht und ihn in die Schweiz eingeladen. Er hat deshalb den Bundesrat am Jubiläum zum Zionistenkongress in Basel vertreten. Ich habe am gleichen Tag Präsident Herzog in Bern zu einem offiziellen Besuch empfangen.

Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist klein und dennoch stark präsent auch mit Forderungen etwa im Bereich Sicherheit. Wie nimmt der Bundesrat diese partikularen Interessen war?
Ich habe Verständnis für die Anliegen der jüdischen Gemeinschaft. Gerade zu Beginn des Jahres war ich in Locarno bei Fishel Rabinowicz, einem Künstler, der ein Konzentrationslager überlebt hat. Wir dürfen den Holocaust nie vergessen oder als Nebensache sehen. Die Geschichte zeigt uns ja gerade in diesen Monaten, dass der Mensch offenbar nicht aus seinen Fehlern lernt. Nur das Gedächtnis, nur das Wissen um das, was passiert ist, kann uns dagegen helfen. Deshalb ging ich am Holocaust-Gedenktag zu Fishel Rabinowicz. Er schenkte mir ein Bild mit hebräischen Buchstaben. Es hängt nun bei mir zuhause. Es zeigt Buchstaben, die in eine Ecke gefallen sind und das jüdische Volk im Holocaust symbolisieren. Ich höre, ich passe auf und ich denke daran. Die Schweiz muss dies kontinuierlich tun. In diesem Sinne haben wir ja dieses Jahr auch entschieden, ein Memorial zu schaffen, damit die Menschen nicht vergessen.

Yves Kugelmann