Im Gaza-Krieg verliert Netanyahus Kabinett nicht nur internationalen Rückhalt, sondern auch in-nenpolitisch den Rückhalt der Bevölkerung. Während humanitäre Not und politische Widersprüche zunehmen, bleibt eine Lösung für die Zeit nach Hamas in weiter Ferne.
Israels Regierung bringt durch das im Gazastreifen entstandene Chaos und Elend fast die ganze Welt gegen sich auf. Hamas gelingt es, alle Schuld an Hunger und Leid auf Israel allein abzuwäl¬zen. Doch schafft die Ministerrunde in Jerusalem in ihrem Kriegsdilemma es auch noch, die über-wältigende Mehrheit der Israelis gegen sich aufzubringen.
Selbst im Kabinett werden Ursache und Ziel der Politik Netanjahus nur missverständlich erklärt. Trotzdem schafft Netanjahus Ja-Sager-Runde es im¬mer wieder, ihre Entscheidungen einstimmig zu treffen. Wie beim neuen Rekrutierungsgesetz, das Drückebergern das Leben erleichtern soll. Wäh-rend gleichzeitig diese Woche Reservisten, die in fast zwei Jahren Krieg oft bereits Hunderte Tage an der Front dienten, noch ein Zusatzmonat Reservedienst aufgedrückt wird. Ein Urlaubsbonus hin-gegen wurde gekürzt.
Die Verhandlungen um einen Waffenstillstand in Gaza mit der Freilassung aller Geiseln und dem Abzug Israels stocken. Der Krieg im Gazastreifen geht weiter, tritt aber auf der Stelle. Immer wie-der wird von Ministern die Einheit des Staates beschworen, gleichzeitig aber ei-ne Justiz“reform“durchgepeitscht, die Isra¬els gesellschaftliche und politische Spaltung nur vertiefen kann. Beamte in Justiz und Exekutive, die ungesetzlichenRegierungsanweisungen im Wege stehen, werden kalt gestellt.
Widersprüche? Das Kabinett schafft es trotzdem, immer wieder die dem Premier genehme Ein-stimmigkeit herzustellen. Vor allem da¬durch, dass es wesentliche Beschlüsse vor sich herschiebt. So stand diese Woche die Abstimmung zur „Ausweitung der Kämpfe im Gazastreifen“ an. Ohne genaue Bestimmung des Begriffs. In ei¬nem Clip auf X erklärte Netanjahu, die Verstärkung des Kriegs-drucks auf die Hamas habe die Befreiung der Gei¬seln zum Ziel. Ein Oxymoron, vor dem die Armee-führung ausdrücklich warnte: Mehr Krieg, mehr Tote. Geiseln, Soldaten, Zivilisten. Aus „der Umge-bung des Premiers“ hieß es dann aber, anonym und inoffiziell, Ziel sei die Besetzung des gesamten Gazastreifens. Netanjahu selbst vermied genauere Anga¬ben.
Die aber fordert Armeechef Eyal Samir von der politischen Führung. Klare, militärisch umsetzbare Anweisungen. Keine missverständliche oder gar widersprüchliche „Richtlinien“. Netanjahu vermied es bislang, persönlich und offiziell die drohenden Kosten neuer Offensiven zu benennen. Wer Netan-ja¬hu kennt, weiß, dass er ungefähre Angaben vorzieht. Militärische Erfolge kann er dann für sich selbst verbuchen. Wie die Bombardierung im Iran. Misserfolge lassen sich damit der Armeeführung anhängen. Wie das Massaker vom 7. Oktober 2023.
Die Armee sieht in Offensiven gegen die letzten Hamas-Enklaven im Gazastreifen – Gaza-Stadt, den Westen von Chan Junis, die Flüchtlingslager im Zentrum und die Evakuierungsregion um Mwa¬si im Süden – ein zu großes Risiko für die dort vermuteten letzten noch lebenden Geiseln. 20 sollen es sein. Die Re¬gierung zieht es daher vor, von einer Besetzung ganz Gazas nur inoffiziell zu reden. Könnte eine offizielle Ankündigung doch den US-Präsidenten verstören. Zieht der doch eine Auswei-tung des regionalen Verteidigungsbündnisses mit den arabischen Ölstaaten einer Ausweitung des Gaza-Krieges vor. Die israelische Armee empfiehlt, eine Besetzung auf etwa 75 Prozent des Strei-fens zu beschränken. Mit einer Einkesselung der bevölkerungsreichen Gebiete. Das Ziel: So könne in gleichzeitig laufenden Waffenstillstandsverhand¬lungen Druck auf die Hamas ausgeübt werden.
Ganz wichtig dabei: Alles soll unter weitgehender Öffnung der Transportwege für die zivile Versor-gung ablaufen. Denn dem Debakel mit den neuen Verteilungszentren der amerikanischen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) folgt jetzt schon wieder das Fiasko mit den alten UN-Hilfsorganisationen. Zwischen Mai und August erreichten nur 260 von über 2000 Lkws der UNO ihr eigentliches Ziel: Gazas Zivilbevölkerung. Fast 90 Prozent der Transporte wurden demnach unter-wegs von bewaffneten oder unbewaffneten Räubern leer geräumt. Soll hei¬ßen: Der Hamas-Zugriff auf die Zivilversorgung hat bereits wieder sein altes Ausmaß erreicht.
Propaganda-Zahlen? Sie sind nachzulesen bei UNOPS. Auf der UN2720 Tracking-Webseite. Die Be-schwerde der israelischen Ar¬mee, dass - gegen die Abmachung - UNO und Hamas abhörsicheren Funkverkehr nutzen, wirkt da eher kleinlich. Ein neuer Versorgungsweg könnte jetzt zum Notaus-gang werden: Gazas Händler sollen wieder selbst die Waren für sich bestellen. Steuerzahlungen wird die Hamas so oder so bei den Händlern durchdrücken. Notfalls mit Waffen.
Es sei denn, aus Israels Besetzung würde eine Besatzung. Was Israels Armee vermeiden möchte. Wovon die extremistischen Minister an Netanjahus Tischrunde aber träumen. Ihre infantilen All-machtsphantasien zu Beginn des Krieges mit „Atombomben auf Gaza“ und „keine Rücksicht auf Frauen und Kinder“ wurden von den Anwälten am Haager Strafgerichtshof dankbar angenommen. Als Beweis für Israels Kriegsverbrechen. Jetzt faseln sie von Besatzung, Militärherrschaft, Massen-transfer und Siedlungsbau im Gazastreifen.
Während Israels Reserve ermüdet. Bis hin zu einer unleugbaren Selbstmordwelle in den letzten Monaten. Hochrangige Reserve-Offiziere, darunter ehemalige Armee- und Geheimdienstchefs, pro-testieren gegen diesen Krieg, der "seinen ursprünglichen Sinn und Zweck“ verloren hat. Aber die Regierung macht weiter wie gewohnt.
Wer Krieg als Druck auf den Feind verstehen will und nicht als Mittel zur Gebietseroberung, muss vor neuen Offensiven klarstellen, dass jede Besetzung von Gebieten ihre temporäre Beschränkung haben muss. „Entwaffnung und Entmachtung“ der Hamas klingen gut in X-Clips. Militärisch sagen sie nichts aus. Militärische Erfolge, gleich ob sie auf 75 oder 100 Prozent hinauslaufen, erfordern politi-sche Umsetzung. Israels Regierung aber hat in den letzten Jahrzehnten alles getan, eine politische Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu vermeiden. Im Gegensatz zur Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, die auch von den Regierungen Netanjahus weitergeführt wurde. Politisch wie finanziell stärkte Netanjahu die Hamas im Gazastreifen. Der PA strich er die Steuereinnahmen. Jetzt fehlt eine politische Alternative, die anstelle der Hamas im Gazastreifen zumindest die zivile Kontrolle übernehmen könnte.
Es ist nicht sicher, ob die arabischen Anrainerstaaten der PA zu einer Machtübernahme in Gaza ver-helfen können. Oder wollen. Vor allem nicht, wenn die Hamas weiter aus dem Untergrund und be-waffnet mitmischt. Zurzeit sieht es nicht so aus, als könne eine Eroberung des Gazastreifens die Grundlage eines spürbaren Machtwechsel in Gaza mit Hilfe der PA und internationaler Hilfe vorbe-reiten.
Denn dazu wäre auch ein Umdenken im Kabinett Netanjahus notwendig. Gerede von Besatzung mit Ewigkeitsanspruch bleibt Gerede. Auch wenn eine militärische Eroberung des Gazastreifens für die israelische Armee nur eine Frage der Zeit wäre. Hamas kann militärisch nicht siegen. Israel aber kann im Gazastreifen ohne politische Alternative verlieren. Auch eine Frage der Zeit.