Krieg in Europa, Bruch der transatlantischen Beziehungen und globale geopolitische Verwerfungen - der österreichische Schriftsteller, EU- und Europa-Kenner Robert Menasse stellt den täglichen Hiobsbotschaften in seinem Essay drei Thesen und eine scharfe Analyse entgegen.
Ich möchte Ihnen drei Thesen vorstellen, die nicht nur miteinander zusammenhängen, sondern auch eines gemeinsam haben: sie sind verrückt. Nun hat sich allerdings in der Geschichte regelmässig gezeigt, dass als völlig unvorstellbar galt, dass eine politische und wirtschaftliche Ordnung, in der man sich eingerichtet hatte, in deren Widersprüchen und Dynamiken man sein Leben zu machen versuchte, darunter leidend oder in ihr profitierend, dass diese jedenfalls gewohnte Ordnung irgendwann zu Ende geht und von einer qualitativ völlig neuen abgelöst wird. Diese Vorstellung galt in jeder Epoche als verrückt.
Nun kann aber keiner bestreiten, dass in der Geschichte alles, was einen Anfang hatte, auch ein Ende hat. Um das zu verstehen, braucht man kein Geschichtestudium, es ist nur erstaunlich, dass diese Binsenweisheit, wenn wir über die Dynamiken unserer Gegenwart reden, tatsächlich in die Binsen geht.
Denken Sie an Ulaanbaatar! Kennen Sie nicht? Nun, Ulaanbaatar war einst der Mittelpunkt der Erde, damals als die Weltherrschaft der Mongolen nahezu den ganzen eurasischen Kontinent umspannte. Die Menschen damals konnten sich gewiss nicht vorstellen, dass Ulaanbaatar einmal eine trostlose Stadt in einem abgelegenen Winkel der Welt sein wird. Dies nur als kleiner Appetizer für unsere folgende Diskussion über die neue Weltordnung.
Denken Sie an Kleisthenes, der die Tyrannen aus Athen vertrieben hatte und die attische Demokratie begründete, die heute als die Wiege der europäischen Demokratie bezeichnet wird. Stellen Sie sich vor, man hätte ihn gefragt: Verehrter Kleisthenes, können Sie sich eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen, aber mit Frauen?
Kleisthenes hätte schallend gelacht. Unvorstellbar, hätte er gesagt, verrückt!
«Mit Frauen» hätten sogar vor nicht allzu langer Zeit auch noch die Schweizer als verrückt empfunden. Dies nur als kleine Einstimmung, wenn wir dann über Demokratie diskutieren.
Die Weltordnung
Ich sagte: drei Thesen. Die erste stellt sich dem entgegen, was heute allgemein «Neue Weltordnung» genannt wird. Die zweite versucht eine Antwort auf die Krise und Defizite der europäischen Demokratie zu geben. Und die dritte ist der schüchterne Versuch, einen Sonderfall, der sich selbst als einzigen Normalfall sieht, und schon deshalb ein Sonderfall ist, nämlich die Schweiz, in die europäische Diskussion miteinzubeziehen.
Erstens: Es entsteht eine neue Weltordnung. Dieser Satz ist mittlerweile täglich zu hören und zu lesen. Millionen und Abermillionen von Menschen jagt dieser Sachverhalt enorme Ängste ein, Verlust- und Abstiegsängste, in weiten Teilen Europas wächst Unsicherheit, sowie Nostalgie in seiner aggressiven Form, nämlich als Sehnsucht nach kompromissloser, und, wenn es sein muss, brutaler Restauration alter Ordnungsvorstellungen. Diese Ängste und verqueren Sehnsüchte führen tatsächlich zu Verschiebungen oder gar Umwälzungen in der Innenpolitik und der Aussenpolitik zahlloser Länder, zu neuen Bündnissen und neuen Konfliktlinien.
Was aber ist das Neue an der neuen Weltordnung? Sehen wir eine fundamentale Änderung des Systems, wie die Welt aufgeteilt und wie Mächte ihre Ansprüche auf Teile der Welt durchzusetzen versuchen? Nein. Im Grunde ist die heute so viel beschworene neue Weltordnung nur eine gewisse Umgewichtung der Möglichkeiten der sogenannten Weltmächte.
Wenn wir uns bei einem Schachspiel darauf einigen und es akzeptieren, dass der Turm weniger wichtig ist, und ab jetzt bei jedem Zug nur noch ein Feld ziehen darf, dann ist es für alle, die gebannt zuschauen, trotzdem ein Schachspiel, und der Turm würde selbstbewusst erklären, er darf jetzt genau dasselbe wie der König.
Seit unseren Urgrosseltern (und das ist eine Zeitspanne, über die wohl die meisten von uns Familienerzählungen kennen) hat jede Generation das Ende einer Weltordnung und das Entstehen zumindest einer neuen Weltordnung erlebt, wirklich jede Generation. Der Erste Weltkrieg zerstörte vier Weltreiche, danach war die Welt eine andere. Dann zeigte sich die Hilflosigkeit kleiner Nationalstaaten, die so heiss erkämpft und euphorisch gegründet wurden, sie wurden zu Spielbällen im Ringen um eine neue Weltordnung, die der Völkerbund versprach, der bald scheiterte und einer neuen Weltordnung Platz machen musste. Im Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die USA und die Sowjetunion zu Grossmächten, die die Welt unter sich aufteilten, eine neue Weltordnung, die nach 1989 zu Ende ging (was sich übrigens noch wenige Wochen vor dem Mauerfall niemand hatte vorstellen können), worauf China zur Grossmacht aufstieg, schon wieder eine neue Weltordnung!
Wenn also eine Nachricht zunächst keinen Neuigkeitswert hat, dann diese: Es entsteht eine neue Weltordnung. Zumindest eine entstand ja in jeder Generation! Aber, und das ist jetzt wichtig zu verstehen, es waren in dieser Zeitspanne immer Weltordnungen, die jeweils hervorgestülpt wurden aus dem Konkurrenzkampf von Nationen. Das heisst: es waren nur Machtverschiebungen innerhalb ein und derselben Weltordnung, der Ordnung einer in Nationalstaaten organisierten Welt.
Die Entstehung der neuen Weltordnung, die uns heute so nervös macht, ist in Wahrheit ein Zombie-Tanz der Geschichte. Nämlich ein Ringen grosser Nationen um globale Vorherrschaft. Warum Zombie-Tanz? Weil die Globalisierung längst die Nationsidee überwunden hat. Das ist als Prämisse weiterer Diskussionen wichtig. Was ist Globalisierung? Eine dynamische, auf ewiges Wachstum und Ausdehnung fixierte wirtschaftliche Entwicklung, die zu multinationalen Konzernen führte, hat nationale Grenzen zertrümmert, die nationale Souveränität von Staaten ignoriert oder ihren Interessen unterworfen, sich Gesetze jenseits nationaler Rechtsstaatlichkeit gegeben und nationale Politik zu ihren Gunsten erpressbar gemacht, kurz: das Fundament der Nationsidee und der Legitimation der Nation zerstört. Die globale Arbeitsteilung in der Warenproduktion, die Lieferketten, die Finanzströme sind längst transnational, Nation ist 19. Jahrhundert, ist bestenfalls vintage. Die einzigen, die das noch nicht begriffen haben, sind die grossen Nationen, die glauben, dass Globalisierung auch nur eine Dynamik sei, über die man nationale Kontrolle erlangen müsse, um globale Vormachtstellung zu erlangen, und sei es zu Lasten sogar der eigenen Populationen. Politisch tickt in ihnen dabei die blecherne Mechanik des 19. Jahrhunderts: da geht es um Erweiterung des Territoriums, um exklusiven Zugang zu Bodenschätzen, um politische Einflusssphären, da geht es um eine so genannte Bündnispolitik, die Unterwerfung fordert, zum Beispiel durch Einsetzen von Marionetten-Regierungen oder Unterstützung von Schurkenstaaten, und das alles in letzter Konsequenz mit militärischen Mitteln. Und da reden wir noch gar nicht von den völlig aus der Zeit gefallenen Vorstellungen von einer ethnisch und sprachlich reinen, von Menschen anderer Herkunft, anderer Muttersprache und anderer Religion befreiten Nation, angesichts der globalen Migrations- und Fluchtbewegungen.
Der grösste Agressor
Tatsächlich entsteht jetzt aber eine wirklich neue, eine qualitativ neue Ordnung, und es ist erstaunlich, dass dies in den öffentlichen Debatten und veröffentlichten Kommentaren kaum zum Vorschein kommt. Die Entwicklung dieser neuen Ordnung begann in Europa nach 1945.
Nationalstaaten, die kurz davor noch verfeindet waren, und verwüstet von nationalistischen Kriegen und Verbrechen, haben eine politische Konsequenz aus dieser Untergangserfahrung gezogen. Mit der Gründung der Montanunion, die zur heutigen EU weiterentwickelt wurde, sind sie bewusst in einen nachnationalen Prozess eingetreten, zur Überwindung des Aggressors, der die grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu verantworten hatte – der Aggressor hiess Nationalismus. Die Idee war, die nationalen Ökonomien so miteinander zu verflechten, dass kein teilnehmender Staat mehr etwas gegen einen anderen unternehmen kann, ohne sich selbst zu schaden, wodurch Gemeinwohl entnationalisiert und verallgemeinert werden sollte, unter der Kontrolle supranationaler Institutionen, die dann auch die Aufgabe bekamen, diesen Prozess weiterzuentwickeln. Internationale Organisationen gab es schon davor, sie sind gescheitert wie der Völkerbund, oder scheitern unentwegt wie die UNO. Europa ist der erste Kontinent, der supranationale Institutionen geschaffen hat, und das ist etwas qualitativ ganz anderes und Weiterreichendes. Ich behaupte, hier sehen wir den wirklichen Epochenbruch, auch wenn er schleichend von Statten geht. Dieser Prozess hat überraschend weit getragen, wenn man bedenkt, wie unvorstellbar für die Mehrheit der Menschen in Europa es zunächst gewesen sein musste, was dann nach und nach durchgesetzt werden konnte. Wer hat sich vorstellen können, dass Frankreich, kurz nachdem es endlich die deutschen Besatzer niedergerungen und rausgeworfen hat, Souveränitätsrechte an eine gemeinsame Behörde mit den Deutschen abgeben würden? Wer hat sich vorstellen können, dass die Deutschen auf ihre extrem fetischisierte D-Mark zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung verzichten würden? Wer hat sich in den 50er Jahren vorstellen können, dass einmal die europäischen Staatsgrenzen innerhalb der Union zugunsten für Reise- und Niederlassungsfreiheit fallen würden? Und doch ist das und noch viel mehr passiert. Die europäische Menschenrechtscharta ist in der EU in Verfassungsrang, im Gegensatz zur UNO-Menschrechtsdeklaration, die bloss eine Empfehlung ist, die viele Staaten, von den USA bis zu Vatikan-Staat, nicht einmal ratifiziert haben. Das ist der Unterschied zwischen internationalen Abmachungen und supranationaler Gestaltung. Das ist ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, der meiner Meinung nach bedeutender ist, als der erste Schritt eines Menschen auf dem Mond.
Das ist meine erste These: die wirklich neue, die qualitativ neue Weltordnung geht von Europa aus, als Prozess der Entstehung einer nachnationalen Welt. Das führt natürlich zu der Frage: Wollen wir Ameisen im Terrarium einer der letzten grossen Nationen sein, oder nicht doch lieber Subjekte der Geschichte? Wollen wir die Globalisierung erleiden oder wollen wir sie gestalten?
Daher zweitens: Natürlich wollen wir, dass diese neue Ordnung, die in Europa entsteht, demokratisch sein wird. Nun ist aber Europa in nationalen Demokratien organisiert. Nationale Demokratien können allerdings die grossen Herausforderungen, die längst global und transnational sind, nicht meistern, weshalb bei Wahlen antidemokratische, autoritäre Kräfte immer stärker werden. Das ist die gegenwärtige Aporie der nationalen Demokratien: die demokratische Legitimation antidemokratischer Agenda. Es ist verständlich, dass in einer Zeit grosser Transformationskrisen für sehr viele Menschen die Welt, die sich objektiv immer enger vernetzt, subjektiv auseinanderfällt, in eine Welt «da draussen», von der die Bedrohungen kommen, und in die Welt ihres unmittelbaren Lebensortes, ihres Landes, von dem sie Schutz und Verteidigung ihrer Lebensart und ihrer Lebenschancen erwarten. Das ist die Stunde der Rechtspopulisten. Sie versprechen die Ordnung und Sicherheit der eigenen Nation wiederherzustellen und zu verteidigen, gegen die Anfechtungen einer chaotischen und gefährlichen Welt. Allerdings können die Nationalisten ihre Versprechen unmöglich einlösen. Denn keine der grossen Herausforderungen, die jetzt bewältigt werden müssen, von den Migrationsströmen bis zum Klimaschutz, von den Transformationskrisen der Wirtschaft bis zu den internationalen Finanzkrisen, Internet und Digitalisierung und deren Konsequenzen, Künstliche Intelligenz, Cyberkriege, absolut nichts von Belang für das Leben in Wohlstand, Freiheit, gefestigter Demokratie und Sicherheit, kann innerhalb der Grenzen einer Nation gemeistert werden, am allerwenigsten in kleinen Nationen.
Nationale Politik als Versprechen, Probleme zu lösen, Krisen zu meistern, Wohlstand zu wahren und zu vermehren, Sicherheit und Rechtszustand auf der Basis der Menschenrechte zu garantieren, wird zunehmend zu einer Politik des Betrugs.
Und das erweist sich leider auch als Blockade in der nachnationalen Entwicklung der EU. Die EU, die sich als demokratisch bezeichnet, besteht aus 27 Mitgliedsstaaten mit 27 komplett verschiedenen Demokratiesystemen, deren einzige Gemeinsamkeit es ist, dass das Wahlrecht an den nationalen Pass gebunden ist. Die Systeme sind so unterschiedlich, dass völlig andere Wahlergebnisse zustande kämen, würde man zum Beispiel in Deutschland das französische System, oder in Österreich das ungarische usw. anwenden. In manchen Ländern kann man mit 16 Jahren wählen, in anderen mit 18 Jahren. Wo sind die 16 bis18 Jährigen dieser Länder im demokratischen Europa demokratisch repräsentiert? Wir können ein Europaparlament wählen, die erste supranationale Volksvertretung, aber wir können nur nationale Listen wählen. Man kann diesen Systemwiderspruch immer weiter durchdeklinieren, man kommt immer nur zu diesem Befund: nationale Demokratien funktionieren nicht mehr in der nachnationalen Entwicklung, die wir Globalisierung nennen, während die bewusste nachnationale Entwicklung in Europa blockiert wird durch die alten nationalen Strukturen.
Das ist meine zweite These: Wenn wir nicht beginnen, endlich zumindest beginnen, zu diskutieren, wie eine zwingend notwendige nachnationale Demokratie eines souveränen Europas verfasst sein kann, werden wir Europäer unweigerlich zu nationalen Opfern der stattfindenden anarchischen globalen Entwicklung.
Stimme ohne Stimmrecht
Drittens: Die Schweiz, ihr Platz in Europa. Es ist für mich, als grosser Sympathisant der Schweiz, immer wieder erstaunlich, dass dieses wohlhabende Land gebildeter Bürger und Bürgerinnen eine solch kompromisslose Liebe und eine so zärtliche Treue zu seinen Scheuklappen hat. Was auch immer man medial von der Schweiz in Hinblick auf europapolitische Fragen mitbekommt, es geht immer von derselben Prämisse aus: von der glücklichen, bewährten, erfolgreichen Souveränität der Schweiz in allen Stürmen der Geschichte. Eine Souveränität, die unbedingt verteidigt werden müsse. Ja, die Scheuklappen. Da sieht man nicht, dass die Schweiz bereits durch über 120 bilaterale Verträge mit der EU verflochten ist, in Grunde ist die Schweiz ein EU-Mitglied ohne Stimmrecht.
Und immer wieder wird ins Treffen geführt, dass die Schweizer Demokratie, diese über Jahrhunderte gewachsene, so spezifische und bewährte und geradezu fetischisierte Demokratie nach Schweizer Art, nicht mit der EU kompatibel wäre. Ja, die Scheuklappen. Da sieht man natürlich nicht, dass es kein einziges europäisches Land gibt, dessen Demokratiesystem mit der Idee der EU kompatibel ist. Siehe These Zwei. Also das ist wahrlich kein Schweizer Spezifikum. Sie werden mich heftig korrigieren, aber ich kann nur diesen Aussenblick vertreten: die Schweiz ist mit der Zukunft Europas kompatibler, als die Schweizer glauben. Ein Land, in dem die Region, der Kanton, sowohl politisch als auch in Hinblick auf Heimatgefühl und Identität wichtiger ist, als die Nation, mehrsprachig und multikulturell, fixiert auf sein demokratisches Selbstverständnis, ist doch im Grunde ein kleines Labor, in dem seit langem die europäische Idee geprobt wird, nämlich ein mehrsprachiges, multikulturelles, eigensinniges souveränes Europa zu schaffen.
Das ist meine dritte These: im Fortschreiten der nachnationalen Entwicklung, wenn sich die neue Weltordnung immer deutlicher herausschält, und die Demokratisierung der EU doch fortschreitet, wird die Schweiz sich dazu entscheiden, lieber das Herz Europas zu sein, als ein schwarzes Loch in der europäischen Landkarte. Denn so unbeirrbar die Schweiz in ihrem Selbstbild ist, so flexibel zeigte sie sich immer wieder in entscheidenden historischen Situationen. Im Grunde ist die Schweiz politischer Eigensinn in Schwamm gehauen.
Der erstmals publizierte Essay hat Robert Menasse für eine Panel-Diskussion des Schauspielhaus Zürich in Kooperation mit dem Wochenmagazin Tachles mit Tianna Angelina Moser, Christa Tobler, Oliver Zimmer, Joseph de Weck am 29. Mai 2025 geschrieben.