Kommentar zum Krieg gegen Israel 07. Okt 2023

Barbarei im Teufelskreis

Inferno für Israel - oder wenn das Münchentrauma den Kibbutz erreicht.  

Noch sind die Geiseln in der Gewalt der Hamas, die Lage und viele Kausalitäten unklar. Klar ist jedoch, dass dieser Tag Israel, den Nahen Osten und die jüdische Gemeinschaft auf lange Zeit fundamental verändern wird. Die Geiselnahme israelischer Zivilisten und das Massaker an Hunderter israelischen Konzertbesucher sind ein neuer Quantensprung in der Gewaltspirale zwischen Palästinensern und Israeli. Die Hamas trifft damit die neuralgischsten Ängste, legt israelische und jüdische Traumata frei. Seit dem Lynchmord von Ramallah im Jahre 2006, in dem die israelischen Reservisten Vadim Nurzhitz und Yossi Avrahami durch einen palästinensischen Mob vor laufenden Kameras ermordet wurden, haben Israels Sicherheitskräfte ein ähnliches Szenario mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Seit damals war es israelischen Bürgern per Gesetz verboten, in die Westbank zu fahren. Die Furcht vor Geiselnahmen war enorm. Heute ist dieser Horror eingetreten und Bilder von zivilen Geiseln, gekidnappten Soldaten, eroberten Panzern und flüchtenden israelischen Zivilisten gehen um die Welt und finden bereits eine euphorische Anhängerschaft. Die Pflichtbekundungen westlicher Diplomaten und Politiker gehen über die Agenturen, doch finden sich keine Stimmen der Deeskalation oder Verurteilung der Geiselnahmen aus den Reihen von Palästinas Zivilgesellschaft, arabischen Verbündeten oder muslimischen Geistlichen. Israels Gesellschaft indessen ist verunsichert. Denn alle wissen um das Versagen der israelischen Geheimdienste, darum, dass die Verlässlichkeit von Israels vielfacher militärischer Überlegenheit gebrochen werden kann. Mit wem man in diesen Stunden in Israels Süden oder den Grossstädten spricht - der Schock über das für Israeli Undenkbare, über eine Invasion per Motorrad, mit Paraglidern, über die durchlässigen Sicherheitsabsperrungen, über Infiltration in grossem Ausmasse, Kidnapping oder Besetzung von israelischen Ortschaften ist fast noch grösser als die Ohnmacht der zuerst zensurierten und jetzt überall zugänglichen Bildern. Es hätte nie soweit kommen dürfen, dass eine Terrororganisation den so genanten Palästinenserkonflikt in Erinnerung ruft abseits von diplomatischen Verhandlungsplattformen - mit mittelalterlichen, völkerrechtswidrigen, barbarischen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung. Die Menschen erzählen schauerliche Geschichten von Angehörigen, Vermissten, Soldaten. Die Strassen sind weit über den abgeriegelten Süden hinaus leer. Die Bevölkerung ist paralysiert. Während die Geiselnahmen noch im Gang und im Süden israelische Ortschaften unter der Kontrolle von Hamasbrigaden sind, ist in Israel an diesem jüdischen Feier- und zugleich Kriegstag die innerisraelische Kritik in der Presse massiv und unüberhörbar. Die noch unbestätigten und schwer überprüfbaren Zahlen von Toten, Verletzten, Geiseln und Anzahl Raketen sind schon jetzt verheerend und werden stündlich mehr. Dass, Israel am 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs wieder von einem Angriff weitgehend unvorbereitet überrascht wird, hat die bei anderen Konfliktsituationen selbstverordnete Phase des Zusammenhalts durchbrochen. Auch wenn heute viele Offizielle aller politischen Parteien, Israels Geschlossenheit angerufen haben, ist klar, dass die Regierung Netanyahu in den letzten Monaten eine Eskalation nicht verhindert haben.  Wissend, dass sich die geopolitischen Gewichte in der Region und weltweit dramatisch wandeln.

Erstmals seit 1945 wird Simchat Thora ohne Gesang und Tanz gefeiert. Wie ein Lauffeuer erreichten die Nachrichten vom Angriff der Hamas gegen Israel die Synagogen weltweit, Gesänge zum Hallelgebet wurden eingestellt. Das Thorafreudenfest verstummte in der Sorge um Freunde, Verwandte  und ein Land im Dauerkonflikt. Im Kontrast dazu ist der Angriff auf Israel auf sozialen Medien längst Event aller Seiten, die sich das tragische Ereignis zu nutzen machen mit perversesten Exzessen. Draufhauen statt Innehalten sind Teil eines Konflikts, bei dem keiner dem anderen mehr zuhört. 

Die kommenden Stunden und Tage werden von Nachrichten und Bildern dominiert, die für Israel und die jüdischen Gemeinschaften weltweit einschneidend sein und eine Dimension erreichen werden, die in den 75 Jahren von Israels Bestehen selbst in den schlimmsten Terrorwellen der Intifada nicht zu sehen war und an die Geiselnahmen und Hinrichtungen israelischer Sportler durch PLO-Kämpfer bei der Olympiade von München 1972 erinnern. Die einen werden sagen, dass mit den Palästinensern ein Friede nie möglich sein werde, die anderen werden die Besatzung von Millionen von Palästinensern ins Feld führen. Mit beidem wird man sich nicht anfreunden dürfen und muss hoffen, dass Pragmatiker auf beiden Seiten einen Weg aus dieser Sackgasse der Eskalation finden werden. Denn das könnte neben der raschen Befeiung der Geiseln die letzte Hoffnung bleiben an diesem Tag: Dass er mittelfristig nach den Tagen massiver Gewalt einen Wandel bedeuten sollte. 

 

Yves Kugelmann