London, Januar 2020. Wo liegt eigentlich das Zentrum aktuellen jüdischen Lebens und Denkens in Europa? Ist es Frankreich beziehungsweise Paris mit der grössten jüdischen Gemeinschaft Europas? Sind es doch eher im Diskurs oft verkannte Zentren quer durch Europa, wie Strassburg, Marseille, Budapest, Wien, Berlin? Und letztlich – was sollen die Parameter sein für die Beurteilung sein: die Zahl der Jüdinnen und Juden, die jüdische Infrastruktur mit Gemeindezentren und Schulen das jüdische Lernen oder vielleicht dann doch die Möglichkeit zur emanzipierten jüdischen Säkularisierung? In den letzten Jahren hat sich in Europa eine jüdische Festival- und gelebte Kultur im öffentlichen Raum entfaltet, die es so nie zuvor gegeben hat und die oft verkannt wird. Sie ist vielfältig, vital, engagiert, jung, manchmal folkloristisch kitschig, gerade in Deutschland oder Polen, und oft einfach brillant und relevant. Mit Blick darauf ist England mit dem Lernfestival Limmud und der Jewish Book Week inzwischen ganz vorne. Letztere gehört nicht nur zum Höhepunkt jüdischen Kulturlebens in England, sondern eigentlich in dieser Qualität weltweit. Euphorisch erzählt Claudia Rubinstein vom diesjährigen Programm, das wiederum die internationale Spitze jüdischer Autorinnen und Autoren präsentiert mit deren Titeln und ebenso einem Feuerwerk an Panels und sehr offenen Debattenplattformen. Die umtriebige junge Direktorin erzählt im Café des Jüdischen Museums Londons die Highlights des Programm und es wird auch rasch klar: die Qualität der jedes Jahr mit neuen Besucherrekorden aufwartenden Buchwoche ist eng verbunden mit dem offenen Selbstverständnis des Programm als Teil der «Res publica». Es geht um das Buch und die offen zu verhandelnden Themen der Gesellschaft und der jüdischen Gemeinschaft. Keine jüdische Interessenorganisation, kein Rabbinat wirken ein, begrenzen, sanktionieren, sondern nur die liberale Offenheit ohne Geiselhaftung ist Ausgangspunkt dieser Plattform für Dialog, Diskurs, Debatte, und letztlich eben das Denken von Jüdinnen und Juden immer auch im engen Austausch mit der Gesellschaft. Es wird viel Judentum, Religion verhandelt – doch die Religion steht nicht über allem, sondern ist Teil der jüdischen Kultur geworden. Der Antipode einer sich wieder zunehmenden sektiererischen, ideologischeren Welt ist die offene liberale Gesellschaft, die es nur dann sein kann, wenn sie das Gegenteil von Ideologie bleibt und nicht selbst zu einer wird. Woher Exzellenz und Qualität kommen in Englands jüdischer Kultur, wäre eine andere und gerade im heutigen politischen Umfeld (vgl. Standpunkt von Charles Ritterband) spannend zu diskutierende Frage. Dass diese Qualität durch Offenheit real existierend und unumgänglich geworden ist, macht die Jewish Book Week ebenso klar, wie sie an den Aufbruch des Judentums in die Moderne erinnert, die keine Assimilation, sondern eben Emanzipation bleibt.
www.jewishbookweek.com
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das Jüdische Logbuch
17. Jan 2020
Wo liegt Europas jüdisches Zentrum?
Yves Kugelmann