Das Jüdische Logbuch 21. Dez 2018

Wo ist Israel?

Yafo/Raanana, Dezember 2018. Sintflutartig prasselt der Regen auf die löchrigen Strassen im Süden Tel Avivs. Seit Jahren hat es nicht mehr in dieser Intensität geregnet. Bäume stürzen im stürmischen Wind, und die meterhohen Wellen vor Yafo brechen über die Schutzmauern. Vereinzelt versuchen Menschen die teils unter Wasser stehenden Strassen zu durchqueren. Der Bazar ist nicht zu erreichen, und die meisten Geschäfte sind geschlossen. In Cafés belebte Diskussionen über die Wetterkapriolen. Der Sturm vereint Familien, Touristen, Araber und Juden zum Tee. Ein Bild, das es selbst im gemischten Yafo immer seltener gibt, da Juden, Christen und Muslime zusammen leben und doch nicht zusammenleben. Die Veränderungen der letzten Jahre separieren auch hier die Gesellschaft zunehmend. Auf den ersten Blick ist vieles noch da – wie einst. Doch dann erschliesst sich, dass es immer weniger Orte für gemeinsame Begegnungen gibt. Die Menschen respektieren sich, Leben aber zunehmend unter sich. Da ist noch was vom Israel der Gründerjahre, der gemischten aufbrechenden Gesellschaft gerade auch bei den neuen Generationen. Doch das gibt es eben immer weniger, während das alte Yafo zugebaut und gentrifiziert wird.

Auf dem Weg in den Norden Tel Avivs zum Schabbat: Raanana ist vor allem ein Anziehungsort für Einwanderer aus Europa und den USA geworden. Inzwischen leben auch viele ehemalige Schweizerinnen und Schweizer in der 1922 gegründeten Stadt zwischen Herzlyia und Kfar Saba. Eine homogene Gemeinschaft, solidarisch und sehr offen gegenüber Besuchern. Hier leben viele praktizierende Jüdinnen und Juden, leben den israelischen Traum abseits der Kibbuz-Nostalgie meist in Einfamilienhäusern. Die Aus­senwelt findet kaum statt, andere Kulturen oder Religionsgemeinschaften sind hier nicht zu finden. Es ist das jüdische Israel mit vielen Unternehmern und Menschen, die sozusagen den Traum und die Vision 2.0 leben und in Start-ups oder jungen Firmen erfolgreich an der Etablierung der starken Wirtschaft arbeiten. Da der Inhaber der Lizenz eines multinationalen Modekonzerns, dort der junge Mitarbeiter der von der Regierung vor einigen Jahren gegründeten Cyber-Sicherheitsfirma oder die IT-Entwicklerin für einen amerikanischen Konzern. Viele Kinder, viele junge Familien, viel Englisch, aktives Leben und die Rückbesinnung auf die eigene ruhige Welt. Ein ganz anderes Leben, das eingewanderte Israel, und jenes, das der erfüllte Traum von vielen ist. Es ist eine internationale Gemeinschaft mit dem nationalen Traum. Irgendwie weltoffen und doch so abgeschottet, erfolgreich und behütet.

Zurück in Yafo. Das Meer ist ruhig geworden. Es st der letzte Chanukkaabend. Am «Clock Tower» am Eingang zum alten Teil von Yafo haben sich Tausende von Menschen versammelt, um das letzte Chanukkalicht zu entzünden. Daneben steht ein riesiger Weihnachtsbaum und der Muezzin in der Mosche daneben ruft zum Gebet, während auf dem Platz das letzte «Maos zur» angestimmt wird. Die Luft ist noch feucht, die Strassen schon fast wieder trocken vom starken Wind. Die Geschäfte sind offen, die Imbissstände gut besucht und die Stimmung ausgelassen. Abseits des mondänen Tel Aviv und des traditionellen Jerusalem ist Yafo das Israel der alten Träume für eine jüdische Heimat und weniger Nation, für ein Land der Vielfalt und verschiedener kultureller Zugänge.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann