Berlin, September 2024. «An Rosch Haschana wird es eingeschrieben, und an Jom Kippur wird es besiegelt – wie viele vergehen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch Schwert (…)». Die Worte aus dem Unetane Tokef holen die Wirklichkeit ein. Als ob sie das ablaufende Jahr eingeläutet hätten und in diesem Jahr Bestätigung finden. Das jüdische Jahr geht mit einem neuen Libanon-Krieg zu Ende und die Geiseln sind immer noch in der Gewalt der Hamas. Die grösste jüdische Tragödie der Gegenwart ist längst marginalisiert. Doch sie findet statt. Jetzt. In jeder Sekunde. Während Israels Geheimdienste mit spektakulären Angriffen Etappe für Etappe das Hizbollah-Regime ausschalten und eine Art Krieg des 21. Jahrhunderts führen, bleiben die Geiseln verschollen im Gazastreifen. Seit den Massakern des 7. Oktober bleibt Israels Haltung zu den Geiseln widersprüchlich. Verhandlungsoptionen wurden ausgeschlagen, Prioritäten von der amtierenden israelischen Regierung neu formuliert und die Geiseln und ihre Familien zu oft an den Rand gedrängt. Jüdinnen und Juden in Israel und engagieren sich weltweit täglich gegen das Vergessen der Geiseln – die doch längst entrückt sind hinter aktuelle Schlagzeilen und die immer weiter eskalierende Spirale der Gewalt alles überlagert. Ist das alles richtig? Viele Vorzeichen haben sich für jüdisches Leben verändert. In Israel und ausserhalb, im Gemenge mit den Weltproblemen. – An diesem Abend in Berlin Zellendorf erinnern Autorinnen und Autoren am 100. Geburtstag an Leben und Wirken des Verlegers Siegfried Unseld, der auch den traditionsreichen Jüdischen Verlag zu neuem Leben erweckte. Er, der im Nachkriegsdeutschland durch Bücher so sehr gewirkt, eine neue Plattform der Freiheit geschaffen und wichtige Debatten geführt hat. Seine Witwe Ulla Berkéwicz erinnert an ihn und die vielen jüdischen Autoren um ihn. Ein anekdotischer Abend vieler Weggefährten, ein Abend der Besinnung weit über das Lebens des Verlegers hinaus in eine zutiefst politische Epoche. Einhalt im Rausch der Zeit zur Reflexion – als ob da einer zurufen wollte: Denkt nach, blick zurück und versteht, was im Jetzt geschieht. Es steht in den Büchern und es wird in den vielen Büchern stehen, die die aktuellen Tragödien nicht einfach vorbeigehen lassen wollen. Bücher, die dokumentieren, festhalten und Zeugnis ablegen. Bücher, die sich einschreiben in die Menschheitsgeschichte, so wie Rosch Haschana die Menschen einschreibt ins Buch des Lebens, ins Buch des Todes – am Tag des Buches. «Wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch Schwert», war selten näher als in diesen «asseret jemei teschuwa», den zehn Busstagen. Wenn Realität auf Liturgie trifft, in jeder Sekunde Menschen leiden, werden die Bücher des Weltdramas von Morgen geschrieben. Doch für was? Mit welchem Sinn und Lehre? Eingedenk der Gegenwart bleiben die mythologischen Worte haften und verstellen den Weg in eine friedliche Zukunft, wenn sie nicht angerufen wird.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
02. Okt 2024
Wer durch Feuer, Wasser, Schwert
Yves Kugelmann