Altona, August 2020. Die Dinge sind im Wandel, Menschen verhalten sich anders zueinander und die Pandemie ändert so viele Fragestellungen mit Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es ist dieses orientalische Sprichwort, das es nie gegeben hat, nie geben wird und das doch so wahr, eine Frage und auch so viel Erkenntnis ist: Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich? Kann es eine Welt ohne Antworten geben? Wenn es nur noch die Fragen gäbe oder allenfalls die Antworten durch Frage? Ist die Frage nicht oft relativer als die Antwort? Die Antwort absoluter und in der Umsetzung noch absoluter? Sind es nicht die vielen Antworten, die so lange klar waren und sich immer wieder zu neuen Fragen verändern? All das, was einst so gewiss war, auf einmal wieder Frage? Was also, wenn die philosophische Frage die Maxime der Zukunft wäre? Kann es dann noch Kriege, kann es dann Mord und Totschlag, kann es dann den absoluten Glauben, kann es dann eine neue Gesellschaft geben, die nicht mehr auf der Antwort, sondern auf der reinen fragenden Vernunft basiert? Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich? Ist die Antwort nicht das Instrument der Diktatoren? Die Frage jenes der Demokratie? Ist sie nicht Demokratie Gleichberechtigung und Partizipation? Ist die Frage nicht viel musikalischer und hoffnungsvoller, als es die Antwort je sein kann. Ist die Frage nicht das Kind? Das Natürliche, Direkte, Offene, Ehrliche? Und Antwort das Erwachsene, Beschränkende, die Geiselhaft, das Reduzierende und Manipulierende? Ist das Grosse nicht die Frage der Kinder? Gibt es sie überhaupt, die der Frage gewachsene redliche Antwort? Gibt es die Antwort überhaupt? Und wenn es sie jemals gegeben haben sollte – ist die Welt der Frage nicht die bessere? Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich? Wäre dies die Frage in Platons Höhlengleichnis, die nie hätte beantwortet werden dürfen? Die Frage nach der Wahrheit, die nur erfragt, aber nie beantwortet werden kann? War die nächste Stufe auf der Leiter der Erkenntnis nicht die nächste, die richtigere Frage? Ist die Frage nicht die Möglichkeit als solche? Das Tor zur Welt, zum Denken, zum Dialog? Der Einlass, der keine Antwort benötigt? Aller Beginn von Existenz überhaupt? Was haben Menschen in den Karawanen wohl gedacht, als sie sich über Schatten, Licht und Perspektiven Gedanken und die Frage nach dem Blick aufs Ganze über Jahrhunderte geformt haben? Da Licht der Tag, Schatten die Nacht oder eben die Sehnsucht, der Wunsch nach Erfüllung irgendwo in der Einsamkeit hätte sein können? Und dann, wenn irgendwann alles auf den letzten Moment, auf den letzten Augenblick und den letzten Atemzug hinsteuert: Wird es dann nicht der Moment der Fragen ohne Antworten sein?
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
21. Aug 2020
Wenn Schatten Licht spendet

Yves Kugelmann