Abu Dhabi, Februar 2024. Wenn Nomadenkulturen aufeinander treffen, werden Visionen Realität, die gleichsam von jenen missverstanden werden können, die den Weg weniger schätzen als seinen Ausgangspunkt. Die Abraham-Abkommen katapultierten die Region auf die internationale Landkarte und sie bildet auch jetzt im Gaza-Krieg eine stabile Achse zwischen Israel, der jüdischen und der arabischen Welt. Beim Freitagabend-Kiddusch in der Synagoge von Abu Dhabi sagt Joe: «Abu Dhabi ist der sicherste Ort für Juden geworden.» Der Londoner lebt seit 20 Jahren in den Emiraten. Er arbeitet für eine Logistikfirma. Seit dem 7. Oktober kämen wenig israelische Touristen. «In den Emiraten hatten wir keine antisemitischen Ausschreitungen, wie in Europa oder USA.» An diesem Wochenende leitet ein New Yorker Rabbiner aus Long Island den Schabbat. Studiert hat er in Gush Etzion, bei den grossen Rabbinern Raw Yehuda Amital und Ahron Lichtenstein. Die Mischung aus profundem Thorajudentum in Anbindung an Moderne und Humanismus zeigt ein religiöses Israel auf, das so seit Jahren kaum mehr wahrgenommen wird. Der Rabbiner verbringt die Ferien mit den Kindern in der Region, reiste aus Israel an, wo er und seine Frau ihre studierende Tochter besuchte, und er vertritt den amtierenden Rabbiner Levi Duchmann. Beim Freitagabendessen sitzen rund 40 Menschen auf der Terrasse der Synagoge. «Es ist die erste Synagoge, die nach 100 Jahren in der arabischen Welt gebaut wurde» sagt ein amerikanischer Expat. Ein Dwar Thora gibt es nicht. Alle Predigten von Muslimen, Juden, Christen im abrahamtischen Zentrum müssen vorgelegt und von den Behörden abgesegnet werden. Zwei Tage später vermittelt ein Diplomat im Hintergrundgespräch vertiefte Einblicke in diese blühende Welt zwischen Schein und Sein, deren Schnittmenge allmählich grösser wird. «Die Achse zwischen den Emiraten und Israel ist pragmatisch, couragiert und bleibt stabil. Doch klar ist auch, dass die Emirate ebenso wie die umliegenden Staaten einen Palästinenserstaat wollen.» Damit wird auch klar, was gerade in westlichen Debatten und vor allem in Israel immer wieder zu Disposition gestellt wird. Der Elefant im Raum wird bleiben. Der Ausschluss der Palästinenser aus den Abraham-Abkommen entpuppt sich womöglich je länger, desto mehr als Fehler in einer Region, die Fundamentalismus gerade durch zusammenwachsen, neue Kooperationen und geopolitische Veränderungen sucht.
Die Vision des inzwischen verstorbenen Scheichs Zayid bin Sultan Al Nahyan ist inzwischen in Stein gemeisselt. Er vereinigte 1971 die Arabischen Emirate aus sieben Provinzen und legte den politischen Grundstein für die aufstrebenden Golfstaaten. Der Ölsegen machte es möglich, doch längst ist der Wandel eingeleitet und der Faktor greifbar geworden, der mit Blick auf die arabische Welt verkannt wird: Zeit. Gepaart mit Innovation sind die Golfstaaten parallel zu Israel der innovative Antipode, die andere Art von aufstrebenden Jungstaaten mitten in der Wüste. Die arabischen Gemeinschaften vereint in ihrer ganzen Heterogenität, Widersprüchlichkeit und Innovation der Faktor Zeit. Der Zeitbegriff ist ein anderer als in Europa. Es wird langfristig gedacht, geplant und Projekte werden in diesem Kontext umgesetzt. Gepaart mit einer tiefen Kultur des multiethnischen Zusammenlebens, das von totalitärer Politik, fundamentalistischem Islam und dem Metakonflikt zwischen Sunniten, Schiiten und anderen muslimischen Strömungen permanent bedroht wird, ist eine Moderne ohne sichtbare Geschichte entstanden. Wie Phoenix aus dem Wüstensand heraus gestampft, zeigt sich in den Emiraten eine unwirkliche, künstliche und zugleich multiethnische und -kulturelle Welt, in der die Moderne importiert, antizipiert, neu formuliert wird. Sinnbild dafür sind die gigantischen Malls mit den vornehmlich westlichen Brands oder der Museumsdistrikt von Abu Dhabi mit dem Louvre oder dem Guggenheim-Museum. Zwischen Konservatismus und Vision ist eine neue Welt entstanden, die sich durch Migration und Arbeitsmigration, vor allem auch Expat konstant öffnet. Die Orte könnte beliebiger nicht sein, die historischen Kerne sind längst verdrängt – Orientierung, Verortung, das ganze Koordinatennetz europäischer Erfahrung ändern sich. Die Hierarchie ist das Geld – doch nicht nur. Gesellschaftliche Entwicklungen gehen langsam voran, doch sie gehen voran. Viel ist noch zu tun bei der Gleichstellung von Frauen, auf dem Weg zu einer möglichen Demokratie, zur Pressefreiheit. An diesem Tag ist der Gaza-Konflikt auf der Front von «The National». Die Vielfalt an englischsprachigen nationalen Medien ist gross. Die Berichterstattung über den Gaza-Krieg ausgeglichen. Im Fernsehen werden die Hamas-Massaker ebenso verhandelt wie die humanitäre Krise nach in Gaza thematisiert. Ein Journalist vor Ort sagt: «Internationale und geopolitische Themen werden hier frei und ohne Druck der Regierung nach journalistischen Kriterien thematisiert. Innenpolitische Themen und kritische Berichterstattung über Interna sind tabu.» Das ist die andere Facette in den Emiraten: kaum Datenschutz, die Überwachung, die diffuse Offenheit und unklare Grenzziehungen. Am Nachmittag zeigt der Lokalhistoriker Mahmud beim Abu-Dhabi-Festival die Ursprünge des Landes, spricht über die gemeinsamen christlichen, jüdischen und muslimischen Wurzeln entlang von archäologischen Funden in der Region. Er antwortet offen auf kritische Fragen etwa zum Thema der gemischten Beziehungen zwischen Einheimischen und Einwanderern. Sie seien nicht verboten, Heirat zwischen Muslimen, Christen und Juden unmöglich. Doch es gäbe da Bestrebungen, das zu legalisieren. Südlich von Abu Dhabi hat die Pariser Sorbonne einen Campus in der Wüste errichtet, mehr gegen Osten die New York University. Es ist ein Universum der Nostalgielosigkeit im Bestreben nach einer Zukunft, in Richtung Freiheitsbegriff westlicher Prägung. Kein einfacher Weg in einer Region, die an ihrer engsten Stelle in der Meerenge von Hormus kaum 10 Kilometer von Iran entfernt ist, entlang einer langen Grenze mit dem fundamentalistischeren Saudi-Arabien liegt und im Süden an Jemen und das Huthi-Kriegsgebiet grenzt. Der Bruch mit der Vergangenheit ist allerdings eingeleitet, mit offener Zukunft. Der Ausgangspunkt ist verbindlich, alles andere offen, das Kommittent für ein abrahamitisches Zusammenleben auf Augenhöhe beeindruckend erlebbar, trotz aller Ambivalenzen. Pragmatische Vernunft, eine nomadische Kompetenz im Umgang mit anderen, die nicht zu Fremden gemacht werden, führt nicht zu Stigmatisierung, sondern zu Verbindung, auf eine Art, in der Grenzen gleichsam gesetzt werden und die Spuren im Sand sofort wieder verwischen. Es bleibt der Weg und der Camus-Moment gegen das Scheitern im Angesicht der brennenden Wüstensonne. Sie kann blenden, verblenden – doch Orientierung und Licht ins Dunkel bringt sie immer. Die Karawanen werden weiterziehen und die Frage bleibt: wer alles mitkommen wird.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
09. Feb 2024
Utopismen im Sandstaub
Yves Kugelmann