das jüdische logbuch 14. Aug 2020

Steinsaltz über Steinsaltz

Juan les Pins, August 2020. Ein Zeitungsladen mit Büchern. Eines von Adin Steinsaltz, «Introdcution au Talmud», steht neben einem von Jacques Derrida und einem von Emmanuel Levinas. Die Meldung vom Tod des Gelehrten Rav Adin Steinsaltz wird von der Familie in Jerusalem gesendet und lässt das Ende einer Epoche und einer Entwicklung des Judentums erahnen, die die gesamte jüdische Gemeinschaft nachhaltig prägte, und lässt sie in Worten von Adin Steinsaltz nachhallen. Über Judentum: «Was werden wir sein? Vielleicht eine Gruppe von Leuten, die ihr Erbe wie eine Etikette tragen werden, die nichts aussagt? Was ist denn jüdische Identität? Ich kann eine Etikette tragen, ohne dass es etwas bedeutet, weil ich ihm keine Bedeutung geben kann.» Über jüdische Identität: «Die sogenannte jüdische Identität ist eine der vielen Wege, eine Frage nicht zu beantworten, weil sie selbst eine Frage für viele Menschen als Individuen ist. Es ist eine sehr schmerzhafte Frage. Was bedeutet es, wenn Leute sagen: Wir behalten unsere jüdische Identität? Das heisst doch praktisch nichts. Wenn es aber nichts bedeutet, kümmert man sich auch nicht darum.» Über den Steinsaltz-Talmud: «Es war keine Revolution, aber eine gute Sache. Ich gehörte eben nicht zu jenen, die in einem aussterbenden Judentum lebten.» Über ihn selber: «Irgendwie wurde ich die ganze Zeit über akzeptiert. Sie hatten zwar alle möglichen Probleme mit mir, aber sie akzeptierten, was ich tat.» Über Erziehung: «Ich will die Juden jüdischer machen, während die Juden weniger jüdisch werden wollen. Sie wollen die Schale ohne den Inhalt haben, und ich versuche mit allen Kräften, den Inhalt in die Schale zu füllen.» Über jüdische Denker: «Manchmal ist es auch aus halachischer, aus denkerischer und planerischer Sicht eine Tragödie, dass die Probleme grösser und die Leute, die damit umgehen müssen, kleiner werden. Viele träumen davon, dass etwas geschieht, weil es so nicht weitergehen kann. Aber es geschieht nicht immer etwas. Manchmal braucht es Leitfiguren, die etwas zu sagen haben, dem die Leute folgen werden, und solche gibt es immer weniger – das ist ein grosses Problem. Für lange Zeit zielte das jüdische Leben, die jüdische Erziehung auf eine Art jüdische Exzellenz hin, die solche Leute hervorbrachte. Es ist die Frage, wie lange wir ohne diese Denkelite weitermachen können.» Über Gott: «Gott wird mit und ohne unsere Proklamationen existieren. Da gibt es eher das umgekehrte Problem: Können wir ohne ihn existieren? Bis jetzt haben wir nicht bewiesen, dass wir darin sehr gut wären.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Die Zitate von Adin Steinsaltz stammen aus Gesprächen mit tachles und aufbau.

Yves Kugelmann