Sind Juden Fremde?

Cannes, Juni 2024. Demokratien stossen an ihre Grenzen, wenn der Gesellschaftsvertrag in den verschiedenen Spektren der Gesellschaft eine zu kleine Schnittmenge aufweist oder gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Auf den ersten Blick interessiert die Franzosen in diesen aufgewühlten Zeiten das Abschneiden der Nationalmannschaft bei den Europameisterschaften mehr als die bevorstehenden Wahlen. Ein paar Tage vor dem ersten Wahlgang sind wenige Plakate zu sehen. Doch auf den zweiten Blick brodelt es in Frankreichs Gesellschaft und die jüdischen Gemeinschaften sind verunsichert. Was gilt noch im Gesellschaftsvertrag, wenn alsbald eine Rechtsextreme Regierung in Frankreich an die Macht kommen könnte? Was wäre, wenn die Kommunisten regieren? Es ist bei vielen nicht die reflexartige Empörung aus Prinzip, sondern der Versuch, zu verstehen, was sich in der Republik ändern könnte, gerade für Minderheiten, zu denen Juden immer wieder gemacht werden. Denn eigentlich sind im laizistischen Frankreich Identitäten, Religion, Ethnie kein Unterscheidungsmerkmal mehr. Zumindest in der Theorie. Im Alltag ist der Diskurs überall. «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» wollte gleiche Rechte für alle und Herkunft, Unterschiedlichkeit, jedes Individuum schützen und partizipieren lassen. Der klassische Antisemitismus ist in Frankreichs Eliten weit verbreitet, Antizionismus und so fort spalteten die Gesellschaft schon vor dem 7. Oktober. Was wird sein, wenn Extremisten an die Macht kommen? Schützt der Staat noch alle Bürgerinnen und Bürger, wen jene ihn führen, die eigentlich gegen ihn, Freiheitsrechte, Gewaltenteilung sind? Vor 15 Jahren sind viele jüdische Franzosen aus wirtschaftlichen Gründen nach Israel ausgewandert, dann teils wieder zurückgekommen. Jetzt überlegen sich viele, ob sie unter einer extremistischen Regierung an eine Zukunft in Frankreich glauben sollen. Andere wiederum, sehen in einer rechtsextremen Regierung den Garanten auch für jüdische Sicherheit und eine solide Nahostpolitik. Sind Juden Fremde? In diesen Tagen fühlen sich viele Jüdinnen und Juden fremder in einer Republik, die als Konzept so ideal hätte sein können und in der Realität zu oft an Wirklichkeiten scheitert. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob Rechts- oder Linksextrem und jüdisch zusammengehen können.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.