Das Jüdische Logbuch 27. Sep 2019

Rosch Haschana und die neue Wirklichkeit

Yaffo, September 2019. In wenigen Tagen ist Rosch Haschana. Soeben hat Israels Präsident Reuven Rivlin Binyamin Netanyahu mit der Regierungsbildung beauftragt. Englands Boris Johnson lotet die Grenzen des demokratischen Systems aus. Donald Trump brüskiert die Welt und droht dem Iran mit einem ausgestreckten Arm. Die Uno und die Weltpolitik möchten in Worten den Klimawandel zu stoppen. Die Weltwirtschaft ist gebremst und abseits der täglich gleichen internationalen Schlagzeilen findet das reale Leben der Menschen auf fünf Kontinenten statt, die im Alltag herausgefordert sind. Der Krieg in Syrien und Jemen, die dramatischen Probleme in einigen Ländern Afrikas und anderswo, Hunger, Armut, Kriminalität und Verbrechen weltweit, soziale, medizinische und wirtschaftliche Errungenschaften bleiben in der Regel verdrängt.

Mitten auf der kleinen Nahman-Gasse in Yaffo bereiten junge Menschen einen langen Tisch mit Früchten, Blumen und Speisen zum neuen jüdischen Jahr vor. Bald kommen Studenten, Passanten, Menschen aus dem Quartier ins Gespräch. Die Weltpolitik, die Wahlen in Israel sind kaum erwähnt, doch der in Europa, Südamerika, den USA und auch Israel um sich greifende Rechtspopulismus allemal. Themen sind die globalen, ökologischen und sozialen sowie die lokalen Herausforderungen, Bildungs- und oft auch kulturelle bis jüdische Fragen. Viele dieser Menschen sind politisch engagiert, die Gesellschaft und ihre Entwicklung treibt sie um. In politischen Parteien sind sie nicht engagiert, aber viele in NGOs tätig, weltweit vernetzt. Die alten Ideologien greifen nicht mehr, um ein Verständnis der künftigen Politik einer Welt zu generieren, die sich längst von alten Systemen verabschiedet hat. Der Zufall hat diese jungen Menschen auf dieser Strasse am Vorabend des neuen jüdischen Jahres 5780 zusammengeführt, zur Einkehr und Reflexion geladen. Wenn sie über Politiker, Funktionäre, Vertreter von Religionen oder Verbände sprechen, dann klingt das so, als ob eine andere Epoche diskutiert würde. Diese Gruppe von Menschen ist heterogen. Von Soldaten, praktizierenden Juden oder Muslimen, Pazifisten oder liberalen Konservativen bis hin zu Hippies ist so ziemlich alles vertreten. Das Engagement von Menschen für Menschen und die Gesellschaft vereint sie. Die Matrix der politischen Gegenwart allerdings ist keine mehr für sie. Es geht nicht lange, da werden Fragen an- und ausgesprochen in dieser Gasse in der Abenddämmerung auf, die ein System reflektieren, das Probleme lösen und nicht schaffen soll: Was wäre, wenn es keine politischen Parteien und nur noch Politikerinnen und Politiker gäbe? Was wenn sämtliche Verbände, Lobby-Organisationen, monothematische Interessenvertretungen aufgelöst würden? Was wäre, wenn es in jeder Art von politischen Ämtern Amtszeitbeschränkungen auf vier Jahre geben würde? Was wäre, wenn organisiertes Judentum neu gedacht, nicht mehr segmentiert, wenn jüdische Funktionäre, politisch agierende Rabbinate keine Rolle mehr spielen und die jüdische Wirklichkeit überlagern würden? Was wäre, wenn wir mehr ziviles Engagement übernehmen würden und die globalen Herausforderungen im Bereich Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt einer glaubenden, agnostischen, atheistischen Idee der Schöfpungsverantwortung unterstellt würde? Was, wenn verbriefte Menschenrechte nicht Privileg, sondern Normalität wären, wenn Inklusion Hierarchien der zivilen Partizipation auflöst und wenn transparente Parlamente und konsequent unabhängige Judikativen in einem utopischen, aber doch umsetzbaren System die Zukunft garantieren? Was wäre mit dem grossen Schnitt? Was wäre, wenn das neue jüdische Jahr eines der totalen Neujustierung würde, und was wäre, wenn nicht zugewartet würde, bis die radikalen Konsequenzen des Klimawandels Gesellschaften gar nicht mehr die Möglichkeit lassen, Entscheidungen zu treffen?

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann