Das Jüdische Logbuch 08. Mär 2019

Papstbrief mit Nachhall

Tel Aviv, März 2019. Die Diskussion geht schon im Taxi vom Flughafen los. Diesmal nicht Politik, Wahlen oder der Palästinenserkonflikt. Der Taxifahrer spricht vom Propheten Daniel und seiner apokalyptischen Sicht auf die Moderne. Computer sind Teufelswerk und Daniels Visionen würden bald Wirklichkeit. «Bist du praktizierend?» – «Nein. Doch die Schriften im Tenach nehmen vieles vorweg von dem was heute geschieht», sagt der Fahrer. Er ist um die 40 und verwirrt, kämpft mit dem Navigationsgerät und ärgert sich über Besucher aus dem Ausland. Es ist tiefe Nacht, kein Verkehr. Im Radio berichtet ein Sprecher von der Ankündigung durch den Vatikan, die Archive mit jüdischen Beständen zu öffnen. Während der Taxifahrer über Daniels Prophezeiungen sinniert, sind die Erinnerungen an das Interview mit dem jüdischen Kardinal Lustiger im Dezember 2005 da.

Eine grosse Anlage im 14. Arrondissement in Paris. Ein Altersheim für Priester und Nonnen, Sitz des damals seit kurzem emeritierten Pariser Erzbischofs Kardinal Jean-Marie Lustiger. Interview-Termin in der privaten Bibliothek. Es wird Lustigers letztes Interview über die Schoah und das Judentum sein. Die Bibliothek ist fein geordnet und zu einem Drittel gefüllt mit Büchern zur jüdischen Literatur, jüdischen Autoren, jüdischen Themen und mit theologischen Schriften über das Judentum. Auch das Tagebuch der Anne Frank sticht hervor. Auf dem Tisch liegt unter anderem ein ungeöffneter Brief von Papst Benedikt XVI. Der Kardinal sagt: «Öffnen Sie den Brief. Der Inhalt wird Sie interessieren.» Papst Benedikt hatte im April 2005 sein Amt angetreten. In seinem handgeschriebenen Brief mit Papstsiegel bedankt er sich für die Zeilen des Kardinals und versichert ihm, dass er sich weiter im Sinne des Kardinals für die Öffnung der Vatikanarchive hinsichtlich jüdischer Aspekte und die Dokumente über die Zeit während des Zweiten Weltkriegs einsetzen werde. Ein beeindruckendes Dokument der Zeitgeschichte. Kardinal Lustiger wird später im Interview die Verantwortung der Kirche einordnen und seine Geschichte als jüdisches Flüchtlingskind erzählen. Eine Geschichte, die ihn zur Kirche, aber nie weg vom Judentum gebracht habe und die ihn auch zur Zielgerade für seinen Einsatz um die Erklärung «Nostra Aetate» beim zweiten Vatikanischen Konzil geführt hätte. Theologische Einflüsse auf das Christentum seien für Kardinal Lustiger zentral gewesen. – Inzwischen hat der Taxifahrer die Strasse in Yafo gefunden. Er zitiert Prophet Daniel und interpretiert zugleich die Verheissungslehre in der Moderne und landet schliesslich beim Messianismus von Daniel – und der vereinbarten Adresse.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann