das jüdische logbuch 09. Sep 2022

Navigation im Ungewissen

Tel Aviv, September 2022. Diesmal beginnt der Fahrer das Gespräch über Israels Politik und die bevorstehenden Wahlen. «Ich habe immer Bibi gewählt. Doch jetzt nicht mehr». Vor drei Jahren hätte er erkannt, dass Benjamin Netanyahu keine ehrliche Politik macht. Ardon ist in Tel Aviv geboren, um die 55 Jahre alt. Er ist einer dieser Typen die immer nahe am grossen Erfolg waren und dann wieder scheiterten. Jetzt fährt er wieder Taxi, erzählt von den Schweizern, die er tags zuvor gefahren hat, und ärgert sich über Waze. Die israelische Navigationsapp geniesst weltweit den besten Ruf. Doch in Israel selbst navigiert sie den Taxichauffeur nicht um, sondern mitten in den Stau. Die Hayarkon ist wieder einmal masslos überfüllt, die Durchschnittsgeschwindigkeit der Autos langsamer als in London. «Was ist denn geschehen vor drei Jahren?» – Darüber möchte Ardon nicht reden. Lapid wird er sicher nicht wählen, sagt er. Gantz sei wenigstens ein ehemaliger General. Denen könne man vertrauen. Ardon nähert sich über Schleichwege langsam dem Rothschild Boulvard. Im Radio kommen die Nachrichten von Galei Zahal. Israels Armee führt in Jenin und Nablus Sicherheitsoperationen durch. Ardon allerdings ärgert sich pausenlos über Waze und dass er nun die Konsequenzen solcher einer schlechten App tragen müsse. Langsam wird es dunkel. Die Strassen bleiben blockiert und endlich ist die Endadresse an der Lilienblum erreicht in Tel Avivs unwirklich wirklicher Bubble. Im Triangel zwischen Aussensicht, Blick von innen und Realität spiegelt sich Israels Wirklichkeit in den verschiedenen Perspektiven – und bleibt, was es wird, im ständigen Wandel.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann