das jüdische logbuch 14. Jul 2023

Leben und sterben lassen

Berlin, Juli 2023. Krieg in Europa. Immer noch. In der Eingangshalle des Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages präsentiert sich Besuchern zuerst «Kunst am Bau». Doch an diesem Tag ist etwas anders als sonst. Der Assistent eines Abgeordneten löst das Rätsel auf: die Kunstinstallation mit Ruderbooten in den Farben Rot, Schwarz, Gold hängt bewegungslos da, die grossen Motoren an den Seitensäulen bewegen die immense Seilkonstruktion nicht. «Die Energiekrise» sagt der Assistent, um hinzufügen: «Letztlich symbolisiert die lahmgelegte Installation die Blockade in der Regierung.» Zwei Tage nachdem das Bundesverfassungsgericht die geplante Verabschiedung des Heizungsgesetzes im Bundestag in einem Eilverfahren gestoppt hat, hängen die Boote bewegungslos und irgendwie sinnlos in der Luft. Wenig könnte die Ampel-Probleme in der Regierung besser symbolisieren. Es ist der letzte Sitzungstag vor den Sommerferien im deutschen Bundestag. Mit einem Bein sind die Abgeordneten schon auf dem Weg in die Ferien oder ins Wochendende. Reges Treiben. Es stehen die Abstimmungen zur aktiven Sterbehilfe an. In Deutschland heisst das «assistierender Suizid» und kein Beobachter wird sich wundern, dass das Verbot der geschäftsmässigen Sterbehilfe zweifach scheitern wird an diesem Tag. Assistierter Suizid klingt wie vorsätzliche Beihilfe zu Mord. Das Recht auf den eigenen Tod bleibt emotional, weit über Deutschland hinaus. In Deutschland wird es noch mit Begriffen und historischen Parallelen aufgeladen. Der Abgeordnete in der parlamentarischen Gesellschaft erzählt packend über politische Geschäfte und so fort. Er ist soeben von der Abstimmung zurück. Dann lauter Alarm gefolgt von Ansagen, dass die Abstimmung wiederholt aufgrund eines technischen Defekts werden müsse. Längst befindet sich ein der Teil der Parlamentarier auf dem Weg ins Wochenende. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versuchen, sie zu erreichen und zurückzubeordern. Unzählige Limousinen fahren vor, Abgeordnete eilen zu Abstimmung, durch die Lautsprecher rufen Ansagen zur Abstimmung auf. Wie ein Bienenhaus in Aufruhr. Der Abgeordnete im wunderbaren ruhigen Zimmer in der parlamentarischen Gesellschaft raucht ruhig seine Zigarillo zu Ende und macht sich auf den Weg zur Abstimmung. Assistierter Suizid? Die Reform der Sterbehilfe wird an diesem Tag in Deutschland in der ersten Lesung keine Rechtssicherheit erfahren und Deutsche müssen weiterhin im Schweizer Exil selbstbestimmt Sterben. Beim Abschied erscheint die leblose Kunst am Bau wie zu lang geratene Särge einer Gesellschaft, in der die Politik bis ins Sterben regieren möchte, aber fürs gelebte Leben mit Lösungen hadert.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann