das jüdische logbuch 28. Aug 2020

Lasst die Zeugen Menschen sein

Basel, im August 2020. Es war dieser Moment vor 30 Jahren, der einer ganzen jüdischen Generation hierzulande die Augen öffnen sollte, nachdem die Schweiz und auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) lieber nicht zu sehr in die Geschichte hatten blicken wollen. Gábor Hirsch begleitete seinen Sohn und rund 80 weitere Teilnehmer im Jahre 1990 auf einer Reise nach Polen zu Spuren der vernichteten jüdischen Welten. Eine Reise in seine eigene Geschichte (vgl. Artikel Seite 15). Beni Gesundheit hatte diese und später noch viele andere für Lehrer, Verantwortliche in der Jugendarbeit, Studenten initiiert – mit einem breiten edukativen Begleitprogramm und umfangreichen Unterlagen minuziös vorbereitet. Pionierarbeit weit über die Schweiz hinaus. Es sollten die einzigen Reisen nach Polen bleiben, die sich ernsthaft nicht nur mit dem Massenmord, sondern eben dem vernichteten Judentum, der Geschichte, der Kultur, Quellen und der Gesellschaft auseinandersetzen sollte. Eine Reise durch Polens ehemalige chassidischen Zentren und jüdischen Metropolen mit Vorbereitungsseminaren und dann neun Tagen intensivem Programm mit vielen Begegnungen. Gábor Hirsch erzählte auf der Rampe von Auschwitz seine Geschichte – ohne Groll, ohne Hass, nur mit tiefer Trauer vor dem Ort. Er erzählte die Geschichte seinem Sohn und damit der ganzen Welt. Zum ersten Mal. Er erzählte das Un- und nicht Nacherzählbare – denn diese Sprache kann niemand lernen. Alle Lehrer, Studenten, Jugendleiter, die auf dieser Reise Zeugen dieses Moments und der täglichen Erzählungen von Gábor Hirsch wurden, kamen verändert aus Polen zurück. Sie verstanden etwas, was bis heute von vielen nicht verstanden werden will. Sie erfuhren, wie das Gespräch zwischen Zeugen und Nachgeborenen redlich möglich wurde. Der SIG wollte mit diesen Reisen nichts zu tun haben, obgleich die damalige Präsidentin des Verbands Jüdischer Flüchtlinge eine solche befürwortete. Finanziert wurde sie schliesslich privat, der inhaltliche Ansatz blieb auch fortan ignoriert. Viel hat sich seither nicht geändert. Inzwischen führt der SIG Eintagesreisen nach Auschwitz durch. Dort, wo die Schoah politischen und anderen Zwecken dient, wird sie und werden die Zeitzeugen bemüht und ihnen selten zugehört. Das war letztlich auch der Ausgangspunkt für Gábor Hirsch, die Kontaktstelle der Überlebenden des Holocaust zu gründen, nachdem die Holocaust-Überlebenden allenthalben Ablehnung erfuhren: beim Erzählen ihrer Geschichte, bei Forderungen nach Restitution, bei berechtigten politischen Anliegen überall – auch in der Schweiz. Der Rest ist Geschichte, auch jene der Vereinnahmung der Schoah und der Schoah-Überlebenden, die meist eine Stimme durch andere, aber selten eine eigene erhielten. Gábor Hirsch versuchte dies zu ändern, als Mensch und nicht als Funktion. Er gab den Überlebenden eine Stimme und ein Forum für das wichtige Gespräch. An der Leimenstrasse in Basel erinnert eine Vitrine an diese Reisen im Eingang zum Gemeindehaus der Israelitischen Gemeinde Basel. Eine Vitrine im Gedenken an die vernichteten 1,5 Millionen jüdischen Kinder der Schoah. Gábor Hirsch hat dieses Morden als Kind knapp überlebt, was in einem Foto von 1945 unmittelbar nach der Befreiung festgehalten ist: Er ist mit ausgemergelten anderen Kindern am Zaun von Auschwitz in Häflingskleidern und Decken zu sehen. Mit dem Hoffnungsvollem Blick – jenem Kinderblick, den er bis zum Schluss allen Menschen schenkte.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann