das jüdische logbuch 06. Dez 2024

Kriegsverbrechen? Keine Kriegsverbrechen?

Berlin, November 2024. Die Sonne durchbricht den Nebel. Jeder Blick in die Landschaft der im weissen Dunst verschwindenden und orange flackernd aufscheinenden Bäume zeigt ein Kunstwerk. Ruhige Landschaften, in unruhigen Zeiten. Endlose Wälder und Felder verschmelzen im Morgenlicht zu einer Art realem Impressionismus schöner Landschaften, die irgendwann mal Schlachtfelder waren. Es ist noch nicht lange her, dass hier in den Schützengräben blutigste Kriege geführt wurden. In Deutschland herrscht Wahlkampf. In Frankreich ist die Regierung auseinandergebrochen. Demokratie «at it’s best» oder eben das Gegenteil – je nach Betrachtung. Doch all dies kommt zu Unzeiten, wo Stabilität gefragt wäre in einem Europa, das zwischen russischem Angriffskrieg und amerikanischer Neuausrichtung laviert. In Südkorea hat die Bevölkerung eine Demokratie-Krise abgewendet. In Syrien ist der nie zu Ende gegangene, aber zu früh ignorierte Bürgerkrieg in eine neue Phase eingetreten und zeigt, dass einmal mehr in Nahost ein Stellvertreterkrieg die Dynamiken aus den Fugen geraten lässt. Im Sudan eskaliert der Bürgerkrieg. Immer mehr Menschen sind auf der Flucht. Hunderttausende könnten verhungern. Der Bürgerkrieg im Jemen ist mit den aktuellen Nahost-Kriegen in eine neue Phase getreten und aus Gaza dringen immer mehr Berichte über Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch, und wieder einmal überlagern ideologische Debatten von allen Seiten die Frage zum Umgang mit Realitäten. Untersuchungsbehörden und Gerichte werden dereinst beurteilen, ob Kriegsverbrechen, Völkerrechtsverletzungen oder ethnische Säuberungen stattgefunden haben – oder nicht. Von denen, die das alles ins Feld führen oder negieren, stellen Meinung über schwer zugängliche Fakten. Auch die jüdischen Gemeinschaften weltweit sind in den Fragen geteilter, und zugleich herausgefordert bei einer Diskussion, die die nächste Zukunft bestimmen, die jüdischen Gemeinden und ihr Verhältnis zu Israel beeinflussen wird. Inzwischen hat die Sonne den Nebel verdrängt und strahlt trügerisch, die farbenprächtige Herbstlandschaften erleuchtend. Eine Woche nach den Debatten um die Haftbefehle gegen Israels politische Führung durch den internationalen Strafgerichtshof, wirft Amnesty International Israel in einem neuen Bericht Völkermord vor und stellt nicht nur die internationale Diplomatie vor Herausforderungen, während Lobbyisten sofort negieren, relativieren und andere wiederum eskalieren. Was, wenn Israel Kriegsverbrechen begangen hat? Was, wenn Israel keine Kriegsverbrechen begangen hat? Wie nach den Ruanda-, Balkan- und weiteren Kriegen werden die verbrieften Antworten erst in Jahren unter anderem durch Gerichte folgen und bis dann von Funktionären zerredet werden. Kriege sind kein Fussballspiel oder Anlass für meist ideologisch begründete Besserwisserei, sondern traurige Realität mit komplexen internationalen Regeln. Wer diese hochhält, ist weder links noch antiisraelisch oder antisemitisch, auch dort nicht, wo die Diskurse instrumentalisiert werden. An diesem Berliner Sonnentag sitzt der Sohn jüdischer Holocaust-Überlender hin und her gerissen vor seinem Kaffee. «Wie weit haben wir es kommen lassen, dass wir überhaupt in so ein Dilemma kommen konnten?», fragt er wissend, dass er sich angesichts der Bedrohung mit einem Israel solidarisieren sollte, das schon lange nicht mehr seines ist. «Ich sitze hier in Berlin und muss lesen, wie israelische Minister sich selbst Faschisten rufen und Kriegsverbrechen fordern.» Eine Stimme für viele in diesen Tagen, da mit dem 7. Oktober so viele Dilemmata auf dem Tisch liegen in einer so komplexen Gemengelage. Aus Prinzip die eine oder andere Haltung einnehmen hilft der Sache und den Opfern auf allen Seiten nicht, sondern ist pure Ideologie auf dem Rücken beider.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann