Amsterdam, April 2019. In der Stadt ist es ruhig. Er ist Intellektueller und Wissenschaftler an der Universität von Amsterdam. Mit Blick hoch über den Dächern von Amsterdam resümiert er die aktuelle politische Situation im Lande. Die Aussicht ist atemberaubend und die Perspektiven öffnen neue Zugänge einer Betrachtung, die schon schematisiert und oft selbst ideologisiert ist im Diskurs. Der Antisemitismus habe vermutlich gar nicht zugenommen in den letzten Jahren. Aber der Mainstream-Antisemitismus ist salonfähiger geworden. «Wo Empörung die Reaktion war, wird heute hingenommen.» Gerade Äusserungen vom neuen Rechtsaussen Thierry Baudet nennt er als Beispiel. Derzeit zeigt das Holocaust- und Genozidforschungsinstitut NIOD in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Historischen Museum und der Topografie des Terrors eine spannende Fotoausstellung über die Judenverfolgung Hollands von 1940 bis 1945 im nationalen Holocaust-Museum. Es sind Tausende an Belegen, dass die Ausschliessung der Juden so sichtbar war. Der Fotobeweis zeigt, dass der Mythos vom Nichtwissen in der Realität unmöglich war. Wer in Holland war zu jener Zeit, musste wissen. Die Verfolgung der Juden war Teil der Städtebilder und in der Nachbetrachtung oft vom Mythos der Retter verdrängt wurde. Kollaboration, Denunziation und das aktive Wegschauen waren verbreitet. Dokumente der Ernüchterung schon alleine durch die Quantität. Unweit davon zeigt das Jüdische Museum im jüdischen Quartier an mehreren Standorten die soeben eröffnete Kabbala-Ausstellung «The Art of jewish Mysticism». Der Zweite Weltkrieg, Holocaust und Judentum sind in der Stadt permanent präsent. Die Aufarbeitung der Geschichte und speziell auch das Bewusstsein dafür, dass ausserhalb Polens die Anzahl deportierter und ermordeter Juden in der Schoah in Holllnd am grössten war, haben in den letzten Jahren über die Akademie hinaus in die allgemeine Gesellschft Einlass gefunden. In diesem Kontext steht das Gespräch über die Situation der Gegenwart. «Ja. Auch Antisemitismus ist immer wieder ein Thema. Vor allem die Leugnung des Holocaust bei Migranten.» Rund 100 Jüdinnen und Juden würden jährlich vor allem nach Israel auswandern. Längst ist es draussen dunkel geworden. Der rotgelbe Horizont ist nun in tiefes dunkles blau getränkt. «In Holland wird offen über die Vergangenheit debattiert. Doch zugleich wird zu oft geschwiegen zu Entwicklungen der Gegenwart. Wegschauen hat etwas mit Holland zu tun.»
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das jüdische Logbuch
05. Apr 2019
Kontraste der Gegenwart
Yves Kugelmann