Das Jüdische Logbuch 20. Mär 2020

Kein Minjan, neue Pest – letzte Freiheit?

Basel, März 2020. Die Strassen sind leer, alles geschlossen. Am Badischen Bahnhof gelten die Grenzkontrollen noch nicht. Auch in der Schweiz steht der Lock Down bevor wie in vielen anderen Ländern. Die Menschen sind zur Ruhe gekommen. Die Bevölkerungen akzeptieren die Einschränkungen. Die Ruhe der pragmatischen Vernunft ist keine vorrangig des behördlichen Zwangs, sondern durch Erkenntnis. «Man kam auf die Idee, innerhalb der Stadt bestimmte besonders stark betroffene Viertel zu isolieren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, zu erlauben, sie zu verlassen.» Droht Europas Städten und Quartieren das gleiche Schicksal wie Oran in Albert Camus Allegorie auf Krieg und Widerstand, «Die Pest»? Vielleicht ja. Die Kranken werden ghettoisiert. Die Risikogruppen abgekoppelt von der Gesellschaft. Albert Camus sagt: «Ich will mit der Pest das Ersticken ausdrücken, an dem wir alle gelitten haben, und die Atmosphäre der Bedrohung und des Verbanntseins, in der wir gelebt haben. Ich will zugleich diese Deutung auf das Dasein überhaupt ausdehnen. Die Pest wird das Bild jener Menschen wiedergeben, denen in diesem Krieg das Nachdenken zufiel, das Schweigen – und auch das seelische Leiden.»

Nein, es herrscht kein Krieg. Ja, eine Krankheit geht um, die zur Seuche wird. Nein. Die Krankheit ist keine Antwort auf die Globalisierung. Ja, das Virus kann bekämpft und besiegt werden, wie alle anderen Bedrohungen von Tuberkulose, Malaria, HIV, Ebola. Nein, die Apokalypse steht nicht bevor. Ja, die Gemeinschaften werden diese Zeit bewältigen und dennoch nicht unverändert hinter sich lassen. Die gigantischen wirtschaftlichen Schäden werden repariert werden können. Wie es immer war nach Katastrophen. Doch die Schäden durch Trennung, Verlust und Trauma – was wird mit ihnen sein?

All dies gab es so noch nie und auch für Jüdinnen und Juden hat sich diese Woche etwas geändert, das es – seit sie ab dem 17. Jahrhundert wieder in der Schweiz ansässig sind – nicht gab: Tage ohne Minjan. Soweit sich aufgrund historischer Quellen erurieren lässt, haben die Juden der Schweiz täglich das jüdische Gebet in den Synagogen oder anderswo mit dem Quorum von mindestens zehn Männern durchgeführt. Der Zweite Weltkrieg oder die Öl- und andere Krisen haben nie zu einem derart strikten Regime geführt, das die Versammlung zum Minjan verunmöglicht hätte. Am gestrigen 16. März allerdings wurde dieses für viele unerwartete Szenario erstmals real und die Erfahrung für manchen wiederum irreal. Gegenüber tachles zeigten sich gerade Vertreter orthodoxer Gemeinden schockiert. Erstmals seit dem Tag nach ihrer Bar Mizwa hätten sie nicht wie sonst täglich in Gemeinschaft gebetet. Am vergangenen Dienstagmorgen liefen viele umsonst in Basel, Zürich oder etwa Genf zu Synagogen oder Gebetsräumen und fanden Schrifttafeln vor, die auf das Gottesdienstverbot des Bundes verweisen. Rabbiner mahnten, das Gebet nicht in Gemeinschaft zu verbringen. Zum Teil konnte noch gelernt oder einzeln gebetet werden – ein gemeinsames Gebet war hingegen nicht mehr möglich. Die Stimmung gerade in der praktizierenden jüdischen Gemeinschaft ist dementsprechend geprägt von dieser für einschneidenden Realität, die über die sonst schon strengen Massnahmen bei vielen Trauer hinterlassen haben. Wenngleich Gottesdienste für alle Religionsgruppen in der Schweiz verboten sind, geht das Gebet in Gemeinschaft auf besondere Gebote innerhalb der jüdischen Tradition zurück. Anders als in Kirchen oder Moscheen bietet sich gerade etwa an Schabbat oder Feiertagen keine Lösung über Streaming-Dienste an, wenn etwa das Hören der Thoralesung für männliche Mitglieder der Glaubensgemeinschaft verpflichtend ist. Zwar gibt es für Menschen mit Krankheit Ausnahmeregelungen, die aber bisher für den Fall eines Versammlungsverbots nicht vorgesehen sind. Ob Rabbinerentscheidungen der nächsten Tage Lösungen anbieten, wird sich zeigen müssen. Im Interview mit tachles online hat Rabbiner Joshua Ahrens (vgl. Seite 28) eine solche Möglichkeit noch nicht in Betracht gezogen. Der erste Tag des behördlich verordneten Stillstands in der Schweiz ist ein historischer in mehrfacher Hinsicht. Daraus wird nun mindestens ein Monat. Denn die Rabbiner aller Gemeinden haben dazu aufgerufen sich ans Gottesdienstverbot zu halten. Der Alltag wird sich wandeln – für alle. Keine Schule, keine Arbeit, keine Freizeit, keine Gesellschaft, keine freie Zivilisation – nur Ausnahmezustand. Einer allerdings auch, den Behörden und oft auch Verantwortliche in Gemeinden zu wenig vorbereitet haben. Pandemiepläne waren in aller Munde, doch wurden sie wirklich vorbereitet? Hatten jüdische Gemeinden vorhergesehen, was im Falle von Bedrohung des Gemeindelebens vorbereitet sein sollte oder hat der stete Kampf gegen Antisemitismus sie für andere reale Bedrohungen blind gemacht? Auch auf die jüdische Gemeinschaft rollt die Frage nach wirtschaftlichen Kompensationen zu. Wird der Dachverband einen Teil seines Vermögens von über 20 Millionen Gemeinden, jüdischen Institutionen und Hilfesuchenden für Nothilfe zur Verfügung stellen? Werden Gemeinden in diesem Jahr Steuern kürzen? Die Diskussion wird folgen. Bis dann bleibt das Erwachen der solidarischen Gemeinschaft das Rückgrat gegen die Krise, die Vielfalt von Hilfe, Unterstützung der zivilen Solidargemeinschaft, wie sie gerade auch in der jüdischen so stark gewachsen ist.

Und Camus sagt mit den Worten des Arztes 
Rieux: «Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.» Das Weltliche, die Wisseschaft, die Gesellschaft wird die Pest besiegen. Der Mensch wird obsiegen als Individuum der Gemeinschaft und letztes Primat der Freiheit.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann