Basel, Mai 2025. Der Krieg in Gaza ist längst kein Verteidigungs- und kein Krieg mehr gegen die Hamas oder für die Befreiung der Geiseln. Er ist der Angriffskrieg einer faschistoiden Regierung, die Kriegsverbrechen in Kauf nimmt. Das hat sich lange vor dem 7. Oktober in den Äusserungen der selbsternannten Faschisten Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir abgezeichnet, die Premier Netanyahu an der kurzen Leine halten.
Während zu viele jüdische Organisationen sich an den Konsequenzen des Gaza-Kriegs mit allen internationalen antisemitischen Reaktionen abarbeiten, ignorieren sie die verheerenden Menschenrechtsverletzungen in Gaza und wohl auch der Westbank, haben monatelang seit Einsetzung der neuen rechtsextremen israelischen Regierung geschwiegen, während sie in Europa permanent vor Rechtspopulismus warnen und Antisemitismus in einer Art und Weise politisch instrumentalisiert wird, die in der allgemeinen Bevölkerung durch die Überempörung kaum mehr Wirksamkeit hat. Selbst brutale Massaker und Folterungen durch die Hamas, Geiselnahmen oder der Mord von Mittwoch auf offener Strasse an zwei Mitarbeitern der israelischen Botschaft können das nicht durchbrechen; über sechzig Jahre Besatzung und Nahostkonflikt können durch radikale Politik nicht ausgelöscht werden.
Pro-Palästina-Demonstrationen werden reflexartig kriminalisiert, und Äusserungen über den Gaza-Krieg sind ohne ellenlange Disclaimer mit Verweis auf die Massaker des 7. Oktober oder die Geiseln nicht möglich. Doch Letztere hat die israelische Regierung schon am Tag ihrer Entführung fallen gelassen, wie Aussagen von Regierungsmitgliedern und Medienrecherchen zeigen.
Die wenigen Einzelnen, die sich vorwagen, werden bedroht – wie etwa Delphine Horvilleur – oder ignoriert – wie etwa Samuel Rom mit einem ausführlichen Votum bei der Delegiertenversammlung des Gemeindebunds. Es sind alles Zeichen dafür, wie der teilweise verständliche Rückzug der jüdischen Gemeinschaft mit allen Enttäuschungen und Ängsten vor den Erweckungserlebnissen nach dem 7. Oktober mit der Umkehr von Ursache und Wirkung, teilweise zurückhaltenden Interventionen gegen Aktivismus, Antisemitismus und Drohungen längst in eine Art Parallelwelt abzudriften droht und Jahrzehnte politische und zivilgesellschaftliche Arbeit dekonstruiert. Diese Woche ist der sanktionierte Oligarch Mosche Kantor zum Präsidenten des Europäischen jüdischen Kongresses gewählt worden. Künftig vertritt einer Europas Juden, der diese für eine intransparente Agenda instrumentalisiert, die Entdemokratisierung des Verbands vorangetrieben hat und nun eine Kampagne durchgesetzt hat, die keine demokratische, transparente Wahlordnung zuliess.
Tags zuvor ist Ronald S. Lauder mit seinen über 80 Jahren erneut zum Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses gewählt worden (vgl. Seite 16). Der Basler ESC hat eine Debatte über Israel und Antisemitismus generiert, die in keinem Verhältnis mehr mit der realen Situation vor Ort stand. Basel war kein Malmö. Die Behörden hatten im Grossen und Ganzen Pro-Palästina-Aktivisten im Griff, dem israelischen Team – wie es gegenüber tachles bekundete – ein Höchstmass an guter Betreuung ermöglicht.
Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird all dies zur grossen Mehrheit anders rezipiert. Das mag man verstehen. Der Vertrauensverlust, Emotionen und Ängste zeitigen Wirkung. Doch das Abdriften in Parallelwelten darf gerade bei jüdischen Organisationen nicht in Entkoppelung von Realitäten und realen Entwicklungen münden oder die offene Diskussion verunmöglichen und stigmatisieren.
Die jüdischen Organisationen haben noch kein Mittel gefunden, den weltweiten Erfolg der propalästinensischen Solidarität und der Aktivisten zu brechen – mit anderen Argumenten als prinzipieller Empörung, die meist im Antisemitismusvorwurf endet und kaum mehr jemanden erreicht und jeweils politische Floskeln nach sich zieht.
Das zeigte sich auch bei der SIG-DV vom letzten Sonntag. Antisemitismus und Sicherheit überlagern und dominieren jede Diskussion. Das Funktionärsjudentum gibt sich einen Impetus, den es zur Kür statt zur Pflicht gemacht hat. Dieser Selbstentmündigung stehen Realitäten gegenüber, vor denen die jüdische Gemeinschaft zu lange die Augen verschlossen hat. Sie hat in der eigenen Gemeinschaft auch Entwicklungen zugelassen und nach aussen totgeschwiegen, die bei anderen zu Recht kritisiert wurden: Warnung vor Extremismus, Antisemitismus, Nationalismus, Populismus, Rassismus, Demagogie.
Die jüdische Parallelgesellschaft ist zu gross, toxisch geworden und hat das einst so hehre Ziel aus den Augen verloren, für Jüdinnen und Juden Gleichberechtigung zur Normalität, Bekämpfung von Ausgrenzung zur Pflicht und Vielfalt zum eigenen Selbstverständnis zu machen. Das Amalek-Prinzip darf nicht zur Wegleitung einer jüdischen Moderne werden, sondern der innere Wert einer jüdischen Lehre, die viel mehr zu bieten hat, als jene, die sie missbrauchen und ideologisieren.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
23. Mai 2025
Jüdische Parallelwelten
Yves Kugelmann