Basel, Oktober 2024. Hilde Domins «Herbstzeitlosen» legt sich über die Städte. «Für uns, die stets unterwegs sind – lebenslängliche Reise, wie zwischen Planeten – nach einem neuen Beginn» wie die Holocaust-Überlebende in ihrem Gedicht schreibt und ein «uns» anruft, das längst in die Kette der Generationen übergangen ist. In den Tagen der «aseret jemei teschuwot», der Selichot und Jamim Noraim drängen sich mythische Texte nach vorne, die für die einen Verheissung, unter einigen israelischen Politikern Programm und für viele andere Menschen apokalyptische Abschreckung sind. Sie schleichen sich mit wunderbarsten Melodien in Gemüt und Geist. Doch die mythologischen Texte sind oft von Härte, drohender Gewalt, wenig bedingungsloser Barmherzigkeit geprägt und man fragt sich, wie viel Einfluss diese Liturgie auf Menschen im Heute gerade in Krisensituationen hat. Israels Mehrfrontenkrieg zieht sich in die Länge, das permanente Warten auf neue angekündigte Gegenschläge zermürbt Menschen und viele Fragen sich: Wie lange kann Israel diese Situation militärisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich durchstehen, bröckelt die Allianz des westlichen Rückhalts weiter und was ist die Vision für die Region der Zukunft? Gott hat sich, zumindest in den Texten der abrahamitischen Religionen, über die Region gestellt und man fragt sich beim Lesen nicht nur angesichts der verheerenden Konfliktsituation, wo eine friedliche Koexistenz der Gemeinschaften und sicherer Nationalstaaten angedacht ist. Das ist dann relevant, wenn nicht säkulare Politiker, sondern jene an der Macht sind, die nicht die – im besten Falle liberale – Demokratie, Recht, säkulare Vernunft zum Ausgangspunkt ihres Denkens und Handelns nehmen, sondern Ideologie. Die säkularen Ideologien sind dabei nicht weniger gefährlich als die religiösen. Beide funktionieren anders, doch letztere sind abwendbarer. Die Sündenbekenntnisse sind auch im Judentum an Heilsversprechungen gekoppelt. Die Sühne («Widui»), in der Dialektik zwischen Individuum und Gemeinschaft kann als Befreiungsliturgie verstanden werden – oder als jene der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Texte wie «Haben Yakir Li» («Mein geliebter Sohn», in Jeremia 31:20) voller Sehnsucht und Liebe im Mussafgebet von Jom Kippur stehen im Kontrast mit der Apokalypse in der Haftara aus Jecheskjel (38:18–39:1-10) nächste Woche am Schabbat Chol Mamoed Sukkot im Spiegel der Gegenwart «Und es wird an jenem Tag sein, an dem Gog auf den Boden von Israel kommt (…) dann wird mein Zorn entflammen» liest sich all das anders. Was als Vorbote messianischer Zeiten gelesen wird, klingt nach der Schoah, im atomaren Zeitalter und der gegenseitigen Vergeltungsrhetorik der letzten Tage noch verheerender. Moderne Denkerinnen und Denker wie die israelische Religionswissenschaftlerin Nechama Leibowitz, der Gelehrte Adin Steinsaltz oder der französische Philosoph Jacques Derrida gehen auf solche Texte zu, lehnen sie nicht ab, sondern interpretieren sie neu. In «Vom Sakralen zum Heiligen» arbeitet Emmanuel Lévinas konsequent eine Dimension des Menschlichen heraus, die keine Grenze kennt, und führt sie der Verantwortung zu. Er begründet eine rationale Metaphysik, die durch Entmythologisierung des Religiösen den Götzendienst, und damit den Irrationalismus, zu bekämpfen sucht. «Meine Auffassung des Judentums ist nicht, dass es von der Menschheit gesondert ist. Ich würde sagen, das Blut aller Menschen fliesst durch die jüdische Wunde» sagte Lévinas einst in einem Universalismus-Partikularismus-Paradox, das in diesen Tagen der Besinnung und des Gedenkens an den 7. Oktober nochmals anders klingt. Menschen denken aus der Kultur ihrer Sozialisation heraus, selbst dann, wenn sie diese ablehnen. Der negative Identitätsbezug kann so gefährlich werden wie das Gegenteil im Kampf irgendeiner Form von Vorherrschaft. Der französische Philosoph Jacques Derrida löste dies in dieser Formel auf: «Wenn ich (kritisch) von einer Ontologie der Souveränität spreche, so beziehe ich mich unter dem Namen Gottes auf den einen Gott, auf die Bestimmung einer souveränen, also unteilbaren Allmacht. Wo freilich der Name Gottes an anderes denken liesse, etwa an eine verletzliche, leidende und teilbare, sogar sterbliche Nichtsouveränität, die imstande wäre sich zu widersprechen oder zu bereuen – ein Gedanke, der weder unmöglich noch beispiellos ist –, läge ein ganz anderer Fall vor, vielleicht der eines Gottes, der sich bis in seine Selbstheit hinein dekonstruiert.» Und was heisst all dies für Israel und die jüdischen Gemeinschaften in diesen Tagen des Gebets? Es wird offen und ehrlich zu diskutieren sein in der so wichtigen Heterogenität der Perspektiven und Ausgangspunkte. Hilde Domin hat es benannt: «Sachlichkeit ist eine Vokabel der Freiheit.» Um beide muss es in diesen Tagen gehen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
11. Okt 2024
Jom Kippur und die Sprache der Gewalt
Yves Kugelmann