Das Jüdische Logbuch 20. Sep 2019

Israel feat. Europe feat. Israel

Warschau, September 2019. Kontradiktionen sind die neu-alte Realität. Der Abend in einem Restaurant in Polen beginnt unpolitisch. Das Hauptthema ist der Pessach-Wodka. Eine Mischung aus Wodka und weissem Rettich. Eine spezielle Mischung, die Verleger, Autoren, Filmemacher und Journalisten am Tisch immer wieder nachschenken lässt. Doch dann wird es rasch politisch und erkennbar, dass das gescholtene Europa den Zweiten Weltkrieg längst hinter sich gelassen und die Hemmung vor populistischem und neonazistischem Rechtsextremismus abgelegt hat so wie Israel sich von vielen Gründermythen faktisch, politisch, gesellschaftlich verabschiedet hat. Das Verhältnis zwischen Polen und Israel ist in den letzten Monaten durch das sogenannte Ausschwitz-Gesetz der polnischen Regierung herausgefordert. Es verbietet von 
polnischen Konzentrationslagern zu sprechen. Darauf folgten weltweite Reaktionen und Debatten – sowie ein teilweiser Rückzug von der ersten Gesetzeslesung.

Es ist längst dunkel geworden. Der Spaziergang zum Restaurant an Mahnmälern vorbei durch das mondäne Warschau im architektonischen Wandel bis hin zum Platz vor der Oper führte nochmals wie durch einen Zeitraffer vor Augen, was Polen in den letzten 100 Jahren alles vereint und Warschau letztlich ausmacht. Die polnischen Gäste am Tisch sind sich einig: Die amtierende polnische Regierung ist antisemitisch, selbst wenn sie solche Äusserungen unterlässt. Doch wer in Polen und generell gegen die Liberalität sei, sei gegen Juden, sagt eine Verlegerin. Der Kampf gegen Liberale sei in Polen ebenso zur Staatsdoktrin geworden wie in Ungarn unter Orban. Liberalität werde kausal Juden zugeschrieben, und damit sei ein Kampf auch gegen das Jüdische in der Gesellschaft, ohne es zu benennen, ausgebrochen. Im konkreten Alltag allerdings würden die Juden keine Nachteile erfahren, sondern wie alle anderen unter der Regierung leiden, sagt ein junger Vertreter der Hillel-Organisation. Es ist der Abend nach den Wahlen in Israel. Die Parallelen liegen auf dem Tisch. Wie in Polen wollte auch Premier Binyamin Netanyahu in seinem Land die unabhängige Justiz geisseln, Medien kontrollieren, die Religion instrumentalisieren und einen neuen Nationalismus portieren, einen Nationalismus, der keine Scham, keine historische Verantwortung, keine kulturelle Kontextualisierung kennt. Was in Polen, Ungarn, vielleicht bald auch in den USA Alltag ist, ist in Israel noch nicht umgesetzt – aber angedacht. Unabhängige Medien gibt es in Polen kaum mehr. Am Tisch wird furchtlos offen gesprochen. Doch offene Kritik am allerdings demokratisch gewählten polnischen Regime sei nicht mehr möglich. Die Entkoppelung der politischen Elite von der Bevölkerung, das Feudalisieren der Demokratien in Europa, wie die ungarische Philosophin Ágnes Heller es beschrieb, hat auch in Israel längst Einzug gehalten, erzählen die Israeli am Tisch. Doch Netanyahu scheiterte an seiner eigenen Bevölkerung, erzählt ein israelischer Autor. Immer noch gibt es eine starke liberale Minderheit, die aufbegehrt, sich den Mund in Israel nie verbieten lassen würde und Probleme offenlegt. Israels Demokratie sei stark angeschlagen aber ebenso stark verwurzelt. Wie schnell sich das allerdings ändern kann, daran erinnert ein junger polnischer Übersetzer am Tisch und beschreibt die Mechanismen, die in Polen und einigen anderen Ländern weltweit zu reaktionären, extrem rechten und rassistischen Regierungen führten. «Nach Polen sind während der Flüchtlingskrise keine 1000 Immigranten gekommen», doch das Fremde und Liberale sei zum Mantra des politischen Diskurses geworden. «Politische Propaganda braucht keine Wirklichkeit, sondern öffentliche Kanäle zur Manipulation.» Je länger der Abend dauert, desto ähnlicher werden die politischen Narrative von Osteuropas Ländern, Israel und andernorts: Die Welt ist politisch nach rechts abgedriftet. In Warschau lebte vor der Schoah die grösste jüdische Bevölkerung weltweit. Der Widerstand gegen das politische Regime referiert immer wieder auf diese Zeit. Die Kulturszene, die zivilgesellschaftlichen Engagements und Aktivisten stehen in ganz Polen in der Tradition eines Geschichtsbewusstseins, das in anderen Teilen Polens immer noch Kopf steht und gerade in der extremen Rechten zu eigenartigen historischen Konklusionen führt. Die Manipulation, Instrumentalisierung und Negation von Historie macht sich längst nicht nur in Osteuropa breit. Täglich, so führt der israelische Autor und Sohn von zwei KZ-Überlebenden an, besuchen Hunderte von Israeli Auschwitz - weshalb führt das nicht zu Vernunft und Erkenntnis, sondern oft zu einer Radikalisierung in Israels Gesellschaft? Hatte die zionistische Bewegung ihren Höhepunkt wirklich 1948 mit der Staatsgründung und etablierte danach Nationalismus anstelle eines Staats in jüdischer und somit liberaler Tradition? Die Antwort blieb und bleibt offen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann