das jüdische logbuch 01. Apr 2022

Impression vom Rande

Wien, März 2021. An diesem Freitagmorgen nimmt die jüdische Gemeinde in Wien 300 weitere Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Rund 200 Helferinnen und Helfer kümmern sich in der Israelitischen Kultusgemeinde um die nunmehr über 700 Flüchtlinge aus dem ukrainischen Kriegsgebiet. Im Wiener Stadttempel ist an diesem Freitagabend davon nicht viel zu sehen – doch die Gespräche kreisen um die Flüchtlingshilfe und die Situation im Osten. Wien ist längst Schmelzpunkt am Rande des Krieges geworden – der Krieg spürbar nahe. Russisch und Ukrainisch sind auf einmal überall zu hören in Strassencafés, Autos mit ukrainischen Nummernschildern prägen das Stadtbild, Hilfsorganisationen und Unternehmungen für den Wiederaufbau formieren sich in der Donaustadt. Am Graben in der Wiener Innenstadt erklärt eine Fremdenführerin zwei jüdischen ukrainischen Familien die Wiener Pestsäule auf Russisch. Sie hören geduldig zu und versuchen, inmitten der Fluten von Menschen konzentriert zu bleiben. Inzwischen hat die jüdische Gemeinschaft von Wien drei Hotels zur Verfügung gestellt, um Schutzsuchende Familien in den ersten Tagen unterzubringen. Darüber hinaus stellen viele Familien Wohnungen oder Räume zur Verfügung. Die Gespräche zur Situation sind differenzierter, die Hilfe koordinierter und die Erfahrung mit Menschen aus Russland und Ukraine grösser als etwa in der Schweiz. Wien soll Aufnahmeort auf Zeit bleiben. Schutzbedürftige bilden noch die Mehrheit der ankommenden Menschen aus der Ukraine. Doch längst wird in Wien das Szenario grosser Bodenoffensiven in ukrainischen Städten vorbereitet – wenn Flüchtlinge kommen, die ihr Hab und Gut, Heim und Familie verloren haben. Im Gespräch mit einem österreichischen Konsul für die Ukraine werden die Herausforderungen dann konkreter. Beim wöchentlichen Transport mit 1000 Tonnen Medikamenten muss die Kühlkette für Insulin erst mal gesichert und dringend benötigte aber fehlende Medikamente rasch besorgt werden. Es bleiben nur noch wenige Stunden Zeit vor Abfahrt – doch alle sind ruhig, keine Nervosität. Das Parlament hat soeben beschlossen, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nicht im österreichischen Parlament auftreten darf. Und da ist sie – die Debatte über die Frage von «Neutralität» und was diese denn sein soll und kann in einer solchen Kriegssituation. Eine von vielen Fragen in diesen Tagen, die nach einer klaren Positionierung schreien.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann