Paris, April 2024. Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit zeigt sich an diesem Morgen in Paris. Die Stadt ist eine regelrechte Grossbausstelle. Der Verkehr staut sich noch mehr als sonst schon. Die Metropole bereitet sich auf die Olympischen Sommerspiele und damit auf einen Superlativ vor. Paris soll zum grössten Stadion der Welt werden. Die Eröffnungszeremonie und viele Sportwettbewerbe sollen in der Stadt und nicht in Stadien ausserhalb stattfinden. Doch mit dem Gaza-Krieg sind die Sicherheitswarnstufen und die Terrorgefahr erheblich angestiegen. Zwei Tage nach Irans Angriff auf Israel spricht Frankreichs Präsident Emanuel Macron von der Möglichkeit, kurzfristig auf Stadien auszuweichen. Die Information, wie das konkret geschehen soll, bleibt er dem ohnehin schon genervten Pariser Publikum schuldig. Bereits jetzt zeigt sich ein enormes Sicherheitsaufgebot in der Stadt, Museen und öffentliche Institutionen werden wieder geschützt, wie nach den Attentaten im Bataclan. Seit dem 7. Oktober werden auch in Frankreich jüdische Schulen, Synagogen und Gemeindehäuser zusätzlich geschützt. Der Angriff Irans auf Israel sei historisch und doch bringe er Klarheit, sagt der französische Journalist und Beobachter. Er selbst ist jüdisch. In den Tagen vor dem Raketenbeschuss rechneten gerade auch jüdische Exponenten mit der Möglichkeit iranischer Vergeltung auf jüdische Institutionen etwa in Europa. Dort also, wo Israel noch angreifbarer wird. Indessen bemühen sich Politikerinnen und Politiker mit diplomatischen Offensiven Israels Premier Netanyahu zu besänftigen. Neue Sanktionen gegen Iran werden beschlossen und viele fragen sich: Warum erfolgt dieser Aktivismus jetzt und nicht früher im Kontext der Atomfrage, der von Iran initiierten Proxi-Angriffe auf Israel oder nach Vernichtungsdrohungen gegen Israel von Irans totalitärem Regime? Einem Regime, das nicht nur die Freiheit der Iranerinnen und Iraner täglich beschränkt, sondern jene von Nahost bis Europa bedroht. Die USA und Europa hatten im Kalten Krieg eine Kompetenz entwickelt, die als «Gleichgewicht des Schreckens» Jahrzehnte von kaltem Frieden und Sicherheit ermöglichte. Im Angesicht der eskalativen Situation bleibt unklar, wer in diesem Konflikt im Cockpit sitzt oder ob die Situation der Willkür zum «Grossen Krieg» führt. Die Nacht der Nächte am kommenden Sederabend wird sich in diesem Jahr in vielem unterscheiden. Geiseln, Soldaten, Opfer der Angriffe des 7. Oktober fehlen, die Bedrohung der Israeli dieser Tage ist realer geworden und die Wirklichkeit überlagert das verkannte Ideal einer friedlichen, freien Welt.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
19. Apr 2024
Ideal vs. Wirklichkeit
Yves Kugelmann