Das Jüdische Logbuch 20. Jul 2018

Gibt es Inseln?

Europa, Juni 2018. Tom und Sylvia waren schon in Australien, als Bob Dylan 1964 «You never ask questions / when God’s on your side» auf seinem Album mit dem hoffnungsvollen Titel «The Times They Are a-Changin’» veröffentlichte. Tom war ein kleiner junge im besetzen Budapest. Der bis heute umstrittene Kasztner-Transport brachte ihn ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Als Adolf Eichmans Geiseln überlebten viele der Deportierten, aber nicht alle. Tom kam in die Schweiz zu Verwandten nach Küsnacht, fand seine Eltern, die längst die Auswanderung nach Australien beschlossen hatten. Dort traf er Sylvia. Sie war in Paris als Kind polnischer Eltern geboren. Mit der Besetzung von Paris flüchtete sie ins südlichere Frankreich. Im Kloster versteckt, überlebte sie mit den Eltern unter abenteuerlichen Umständen. Das Kapitel Europa war beendet, doch die Sehnsucht danach nicht. In Melbourne avancierte Tom zum erfolgreichen Unternehmer und Kunstsammler. Seine inzwischen erwachsene Enkelin studiert. Tom ist ein Mann voller Zärtlichkeit. Wenn er über seine Holocaust-Vergangenheit spricht, dann offen und doch nie mit Argwohn. Abgeschlossen und aufgearbeitet. Teil seines Lebens und seiner Gefühle. Doch nicht mehr seiner Träume. Mit der Distanz in Australien, dem glücklichen Schicksal, dass die Eltern der beiden überlebt haben, konnten Sylvia und Tom irgendwie abschliessen. Und da ist sie wieder, diese Strophe aus Dylans Song «With God On Our Side»: «When the Second World War / Came to an end / We forgave the Germans / And we were friends / Though they murdered six million / In the ovens they fried / The Germans now too / Have God on their side.»

Jedes Jahr reisen sie durch Europa, besuchen Freunde, Künstler und Städte. «Ja. Meine Enkelin kennt meine Geschichte. Doch verstehen kann sie diese nicht.» Das Gespräch irgendwo in einem idyllischen Garten in Europa hat etwas versöhnliches. Nicht mit der Geschichte. Doch mit dem Aufbruch danach bei aller Schwere. «Natürlich waren wir in Australien nicht willkommen. Auch nicht in der jüdischen Gemeinde. Die Staatsbürgerschaft erhielten wir rasch. Als Einwanderer mussten wir aber kämpfen.» Tom und Sylvia erzählen vom Leben in Melbourne, von der jüdischen Gemeinschaft und der politisch angespannten Situation. Auch Australiens Parlament weist starke Rechtstendenzen auf. Die Einwanderungspolitik und die gewollte Null-Toleranz stellt vieles auf die Probe auf einem Kontinent, der sich so stark durch Einwanderung definiert. Tom und Sylvia leben ein säkulares, liberales und zugleich in der jüdischen Gemeinde engagiertes Leben. Gibt es Inseln? Kann ein Kontinent, ein Land, eine Region sich ausnehmen aus der globalen politischen Situation? Wird der neue Nationalismus Europas und andernorts diese Inseln möglich machen? Wird Amerika eine solche Insel werden können? Allen jenen Inselmachern wird Dylans Song entgegenhalten: «Du stellst niemals Fragen mit Gott an Deiner Seite» …

Tom überlegt einige Sekunden nach dem langen Gespräch über die Flüchtlingssituation in Europa. «Ja. Ich würde sie aufnehmen.» Dieser Satz geht ihm nicht reflexartig über die Lippen. Denn Tom setzt die Situation von 1939 nicht gleich mit jener von 2015. Das Zögern ist dem Wissen geschuldet um die vielen Herausforderungen und Schwierigkeiten, die gelungene oder gescheiterte Integration immer mit sich bringt. Doch das überzeugte «Ja» ist der Erkenntnis geschuldet, dass die Welt nach dem Holocaust eine andere geworden ist, gerade wenn es um die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden geht. Es ist ein zögerndes, dann klares und ein «Ja» mit diesem zärtlichen Lächeln des kleinwüchsigen Mannes. Das Lächeln der Zuversicht. Sylvia unterstützt die Haltung etwas widerspenstiger in ihrer rebellierenden Art. Nach einigem Nachdenken stimmt sie bei und ist irgendwie glücklich darüber.

Was ist denn eine Insel? Ist Australien eine? Ist Europa, ja ist die Schweiz eine? Was definiert die Insel? Das Wasser um sie herum oder die Insulaner, die sie zur Insel machen auch dort, wo es kein Wasser gibt? An diesem europäischen Sommermorgen prasseln die absurden Nachrichten sekündlich rein: Donald Trumps Helsinki-Lügengate nimmt täglich neue Wendungen und Windungen. Der deutsche Sänger Xavier Naidoo («Baron Totschild») erhält von einem deutschen Gericht die vielleicht berechtigte und doch wirre Bestätigung, er sei kein Antisemit. Marc Zuckerberg kündigt an, Holocaust-Leugnungen auf Facebook (vgl. tachles online) stehen zu lassen, und es kommt gleichzeitig der Gedanke auf, dass der dumme BDP-Politiker Thomas Keller (vgl. S. 6) doch besser gepostet anstatt getweetet und die Einladung vom Facebook-Chef angenommen hätte. Dass Juden gemäss Wunsch eines FPÖ-Politikers in Niederösterreich eine Genehmigung benötigen sollten, wenn sie Koscherfleisch kaufen wollen, ist dann letztlich nur noch eine Kuriosität unter vielen Ambutationen, die irgendwann vielleicht mal generell Realität werden, gegen die liberale und in Verfassungen verbriefte Weltordnung. Da nimmt sich auch Israels Regierung schon lange nicht mehr aus: Mit einer neuen Gesetzgebung schafft das Parlament nun auch de jure die Gleichberechtigung (vgl. S. 7) aller Bürger ab, während Premier Binyamin Netanyahu gleichentags für Ungarns Victor Orbán den roten Teppich für den Staatsbesuch ausrollt (vgl. S. 7).

Tom, das Kind aus Budapest, denkt an den Antisemitismus von einst in Ungarn zurück und an jenen neuen nationalistischen und von Orbán geprägten von heute. Natürlich bleibt er zuversichtlich, doch die letzte, die allerletzte Frage beantwortet er dann nicht mehr. Dylan schliesst: «If God’s on our side / He’ll stop the next war.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann