das jüdische logbuch 04. Sep 2020

Fragen statt Antworten

Amsterdam, September 2020. Er ist seit vielen Jahren Journalist. Wohl einer der besten auf seinem Gebiet. Klar in der Sache, sanft in der Beschreibung. Versiert, bodenständig, bescheiden. Der Abend ist noch jung. Die Themen sind immer die gleichen und doch so anders. Politik, Pandemie und Geschichten, Geschichten, Geschichten. Da die Reportage über Flüchtlingsschicksale, dort die Recherche über einen fremdgehenden Rabbiner und hier die Geschichte eines brillanten Forschers. Die Themen, Ereignisse, Erlebnisse fliessen ineinander. Begegnungen, Erfahrungen und recherchiertes Wissen. Abgleich der Erkenntnisse: Welcher Funktionär lügt, welche Politikerin hat manipuliert, welche Organisationsvertreter werden übergriffig, manipulativ oder anderes. Ein stundenlanges Gespräch und Einordnungen über Journalismus, Themen, Menschen, Wandel und Gegenwart. Inzwischen ist es dunkel, doch der Himmel leuchtet dunkelblau. Die Nächte werden wieder kürzer, die Luft kühler, das Gespräch anregender. Das offene Gespräch folgt keiner Konvention, keiner Norm. Der offene Gedanke mit einem Vertrauten sprengt die Konvention des Normativen, in die der Journalismus ebenso vermehrt gedrängt und wo er strukturell bedroht wird. Er ist ein klarer Denker. Emphatisch und emotionslos im guten Sinne mit klarem Blick auf die Dinge. Seine Sprache ist nicht Kunst, sondern Handwerkszeug, das Subjekt im Blick und nicht das Objekt. Es folgen Judentum, der andere nicht thematisierte Nahe Osten und eben wieder Judentum.

Journalismus kann sich nur immer und immer wieder auf sich selbst berufen – wenn er nicht im Dienste anderer zur Kurtisane verkommen möchte. Er kann nur der integre Chronist bleiben – oft unangenehm, ungeliebt, unbeirrbar. Dafür müssen Journalisten den Weg freikämpfen. Gegen den täglichen Übergriff von Kommunikationsberatern und einer ganzen Industrie von Manipulatoren. Da die Geschichten über abgelehnte Artikel, Verleger, die sich korrumpieren liessen, und die Frage, wie der Journalismus ohne Kraftakt trotz ökonomischen Sachzwängen integer bleiben kann. Die Fragen werden auch im Raum stehen, wenn es Journalismus in dieser Breite nicht mehr geben sollte. Doch gerechter, ehrlicher, aufrichtiger wird die Welt davon nicht. Was für ein Abend mit Sauerstoff für weitere Tauchgänge in die Unterwelt einer sichtbar unsichtbaren Gesellschaft – die zu oft den Schatten sucht. Noch ein letzter Austausch über laufende Recherchen und die Motivation, ein paar Geschichten aus der Schublade zu holen, die aus Furcht vor Reaktionen, Juristen und Konsequenzen zurückgestellt wurden. Sie werden bald kommen. Ein letzter Café, ein letzter Gruss, auf einen nächsten Abend der Inspiration für die richtigen Fragen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann