das jüdische logbuch 02. Mai 2025

Europas Blumenkinder

St. Louis, April 2025. Die Barbarei ist vorbei. Doch bleibt sie es? Die Grenzen zur Schweiz und zu Deutschland sind sichtbar, aber längst fluid. Überall liegen in diesen Tagen Blumen bei den Denkmälern in Erinnerung an den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Sie prägen das Elsass mehr noch als viele andere europäische Landschaften. In der elsässischen Grenzstadt gibt es heute wieder vitales jüdisches Leben, eine kleine Gemeinde und seit vielen Jahren eine Talmudhochschule. Ein letztes Überbleibsel der einstigen jüdischen Hochburg im Osten Frankreichs, wo sich eines der bedeutenden traditionellen Zentren jüdischen Lebens, Lernens und Wirkens in Strassburg befindet.

Verkennen Gesellschaften die Gegenwart, weil Referenzrahmen aus der Geschichte zu falschen Schlussfolgerungen führen? – Oder, anders formuliert, führt Geschichtsvergessenheit zu besserer Analyse und Weichenstellung für die Zukunft? Man möchte sagen: Nein. Doch man könnte angesichts der aktuellen Entwicklungen sagen: Ja. Denken wir das mal durch in Tagen des Gedenkens an Jom Haschoah, zu Jom Hasikaron, in den Tagen des Omer und am Vorabend des 8. Mai. Dieser wird nächste Woche in Ost und West zu sehr unterschiedlichen Narrativen führen, wenn Russlands Gedenken auf dasjenige in Europa und den USA prallen wird.

Der Blick auf den Zweiten Weltkrieg, die Verherrlichung der Alliierten, das Beschwören von Vergangenheit, von eigenen Narrativen und von Identitätspolitik steht oft einer redlichen Kultur der Erinnerung entgegen, die historische Ereignisse in einer Integrität belässt, ohne sie umzudeuten oder zu missdeuten. Die Befreiung Europas am 8. Mai 1945 war der Startpunkt für das moderne Europa, liberale Demokratien und Menschenrechte. Doch all dies hat nicht verhindert, dass 80 Jahre später Autokratismus, Populismus und Krieg sich wieder ausbreiten. Oder dass der amerikanische Präsident mit den Fingern schnippt und die Sicherheitsarchitektur Europas über den Haufen wirft, die Jahrzehnte als verbrieft galt.

Was haben jüdische Gemeinschaften in den letzten Jahren nicht sehen wollen, was sich im Inneren Israels als an Zerschlagung der ursprünglichen zionistischen Idee anbahnte? Und so fort. Kaum eine Familie in Europa ist nicht bis heute von den Kriegen des 20. Jahrhunderts geprägt. Die Aufarbeitung von all dem dauert Generationen, ist wichtig und zugleich verstellt sie. den Blick auf die Gegenwart. «Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz» ist das Credo des 8. Mai geworden. Doch was, wenn der Krieg wieder vor der Tür steht, Fremden- und Judenhass im Steigen begriffen sind? Hat Erinnerungskultur versagt? Die Realitäten der kommenden Monate werden die Antworten liefern. Die offenen Grenzen Europas sind die Errungenschaft der Moderne, der Ort für Blumen. Auschwitz bleibt das Inferno der Menschheit – der Ort an dem es nie Blumen gab.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann