das jüdische logbuch 20. Mai 2020

Es muss eine Revolution geben

Basel, Mai 2020. Irgendwie begann alles in Basel – natürlich mit einem Skandal und diesem Satz im Drama «Der Stellvertreter»: «Ein Stellvertreter Christi, der ‹das› vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson, der sich nur einen Tag besinnt, nur eine Stunde zögert, die Stimme seines Schmerzes zu erheben zu einem Fluch, der noch den letzten Menschen dieser Erde erschauern lässt –: ein solcher Papst ist (…) ein Verbrecher.» Geschrieben hatte dies der letzte Woche in Berlin verstorbene Dramatiker Rolf Hochhuth. Er, der über Jahrzehnte in Basel lebte, sah mit offenen Augen hin, analysierte und schrieb in Dramen, Essays, Novellen, Gedichten und Leserbriefen ebenso offen darüber. Gegen den kleinen Schwindel und gegen die grossen Jahrhundertlügen. Hochhuth sezierte die Dinge – hielt Objekt und vertuschende Sprache auseinander. Aussagen von Politikern, Funktionären, Wirtschaftsbossen oder Propaganda waren immer zuerst Steilvorlagen, um Dinge unideologisch zu hinterfragen – und führten fast immer zu Friktionen mit dem Publikum. Zugespitzte Erkenntnis, auch wenn viele sie nicht hören mochten. Klare Positionen, auch wenn sie teils falsch sein mochten. Scharfe Interventionen, auch wenn die Reaktionen nicht auf die Sache, sondern die Person eintraten. Hochhuth lernte rasch, dass die bewiesene Wahrheit nicht zuerst interessierte, wenn er etwa Antisemiten oder Nationalsozialisten immer wieder entlarvte. Rolf Hochhuth war unbestechlich, furchtlos, geradlinig und damit eine Art Frühwarninstanz für bevorstehende gesellschaftliche Herausforderungen oder Skandale. In einem der Gespräche mit tachles im September 2003 warnte er vor dem Krieg um Arbeit: «Für mich ist klar: Es wird niemals mehr auf Erden Arbeit genug für alle geben, jedenfalls nicht in den europäisierten Ländern. Und die McKinsey-Seuche, dass die Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen! Noch vor kurzem war so etwas undenkbar. Ein Unternehmer wie zum Beispiel mein Grossvater hätte sich doch geschämt, Leute zu entlassen, nach Erfolgsjahren. Es gibt den Begriff im Althochdeutschen: Felonie. Das ist die Untreue des Herrn gegenüber dem Knecht. Von dieser Maxime haben wir uns weit entfernt.» Die folgenden Wirtschafts- und Finanzkrisen sollten ihm Recht geben. Hochhuth forderte die friedliche Revolution gegen Wirtschaftsdiktate. In der Demokratie sah er nur eine Hälfte, da die andere von Konzernen in Hinterzimmern bestimmt würde. Seit den 1960er-Jahren deckte Hochhuth Skandale auf, forderte eine redliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus in einem Deutschland, in dessen Parlament nach Gründung der Bundesrepublik noch viele Täter sassen. Seine investigative Erzählung «Eine Liebe in Deutschland» brachte 1978 den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger wegen seiner NS-Vergangenheit zu Fall. Hochhuth führte die Debatten mit Stücken oder später mit der Übernahme des Brecht-Theaters Berliner Ensembles. Er konnte katastrophal irren, wenn er den Holocaust-Leugner David Irving zu lange verteidigte und erst aufgrund massivster Interventionen angeführt von tachles-Publizist Ralph Giordano seine Position änderte und im Austausch mit tachles dann auf Irrtümer hinwies, wie etwa seiner Freundin Hannah Arendt im Umgang mit Martin Heidegger. Und doch: Auch solche Fehler konnten Hochhuth über sechs Jahrzehnte öffentlicher Intervention nicht abbringen, für das Richtige einzutreten, gerade bei der moralischen Erneuerung der Politik, wie er sie forderte.

Geboren 1931 im hessischen Eschwege wurde er 1945 von den Amerikanern befreit, was sein Leben und Schreiben stark beeinflusste. Doch in den 1990er-Jahren positionierte er sich kritisch gegenüber der amerikanischen Aussenpolitik. Die Öffnung der Vatikan-Archive und somit die Untersuchung der Rolle des Vatikans beziehungsweise von Papst Pius XII. während des Holocaust vom letzten Februar hat Hochhuth noch erlebt und auch erfahren, was er 1963 in seinem Drama «Der Stellvertreter» dokumentiert hat. Die Uraufführung unter Erwin Piscator im Berliner Theater Kurfürstendamm sorgte für einen der grössten Theaterskandale im deutschsprachigen Europa. Bei der Aufführung in Basel schützten Polizisten am Bühnenrand die Schauspieler vor dem aufgebrachten Publikum. Erst die Fürsprache von Grössen wie seines Mentors Karl Jaspers, von Golo Mann oder von Walter Muschg ebneten den langen Weg zum Erfolg. Hochhuth selbst bezeichnete sich als Radau-Autor, aber nicht als Provokateur. Mit dem dokumentarischen Theater wollte er aufklären: «Oft liegt der Sache eine grosse Empörung zugrunde. Ich höre von einem Unrecht, und das bringt mich auf. Ich finde, Aufklärung ist die vornehmste Aufgabe der Dichtung, wahrscheinlich sogar der Lyrik.» Hochhuth war ein Getriebener. Die Debatte war für ihn kein Selbstzweck, sondern Raum zum Schutz von Wehrlosen, letztlich der Demokratie – immer in Solidarität mit den Schwachen. Die Revolution, die er forderte, war eine friedliche, durch die Kraft des wahreren Arguments, durch Worte in Parlamenten und gespiegelt auf Bühnen und in Pressespalten.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann