Das Jüdische Logbuch 06. Mär 2020

Ernste und geschenkte Zeit

Basel, März 2020. Ein Café in Basel mit gestrandeten jüdischen Menschen. Sie sind aus Israel und anderen Ländern zur Basler Fasnacht gekommen. 
Jedes Jahr unverzichtbar. Doch in diesem Jahr wird alles anders. Keine Fasnacht – doch viel Solidarität und eine Gemeinschaft, die sich sozial neu entfaltet. Drei Tage und vor allem Abende lang treffen sich die Menschen in Cafés, in Kellern oder Wohnungen. Keine Fasnacht heisst noch lange nicht kein Zusammenleben. Und keine Fasnacht heisst auch noch lange nicht bitterer Ernst. In den vollen Gassen finden die Menschen entlang dem Gesetz Wege, dem Virus zu trotzen und die Lage dennoch ernst zu nehmen. Da die Cliquen, die singend durch Basel laufen, da ein Piccolo und dort ein Schnitzelbangg. Auf dem Marktplatz werden anstatt der Kinderfasnacht Süssigkeiten, Orangen und Mimosa verteilt. Das Fasnachtsverbot trifft das lokale Gewerbe stark – und doch sind die Restaurants voll jeweils bis zur Sperrstunde. Ausnahmezustand im Ausnahmezustand. Solidarität hingegen wird grossgeschrieben. Betriebe helfen sich aus, übernehmen zu viel bestellte Waren oder Cliquen halten an ihrem täglichen Programm in Restaurants fest. In der traditionellen Hasenburg tritt am Mittwochabend ein Schnitzelbangg mit Schutzmaske anstatt Larve auf und verliesst seinen «Jahresbericht». Durch die grossen offenen Scheiben blickt die dreiköpfige Polizeipatrouille und bleibt lächelnd stehen. Die globalisierte Welt entschleunigt sich in diesen Tagen und Menschen finden Zeit füreinander, die sie sonst nicht haben. So erzählt die Baslerin aus Israel, dass sie wie jedes Jahr unbedingt zur Fasnacht kommen wollte – und dennoch am Montag nach dem Morgestraich rechtzeitig in Israel zu den Wahlen zurück sein wollte. Indessen fragen sich andere nach dem Entscheid von Israels Gesundheitsministerium, ob sie die Rückreise nach Israel und andere Länder überhaupt antreten sollen. Nach Tagen der Einkehr und einem wiederentdeckten Solidaritätsgedanken in der Bevölkerung bleibt die Frage, ob nach dem Virus zumindest diese vergessen geglaubte Errungenschaft bleiben wird.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann